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Humperdicks Oper »Königskinder«, die in den letzten Jahren wieder etwas aus dem Schatten ihrer älteren, allüberall gespielten Schwester »Hänsel und Gretel« heraustritt, wartet mit einem kruden, nicht sofort durchschaubaren Libretto auf.
Der Komponist hatte es seinerzeit von der unbekannten Tochter eines Freundes akzeptiert. Glaubte Humperdinck, mit dem Stoff, der verschiedene Grundkonstellationen klassischer Grimmscher Märchen vereint (Königsohn trifft Gänsemagd im Hexenhaus, doch zusammen können die beiden nimmer kommen), an frühere Erfolge anknüpfen zu können?
Nun – obwohl das „deutsche Märchen“ – so ist das Schauspiel untertitelt, das der Oper zugrunde liegt – bei der Uraufführung in New York am 28. Dezember 1910 triumphal gefeiert wurde, warf man Humperdinck hierzulande vor, mit so viel „naturalistischer Tendenz“ seinen Übervater, Arbeitgeber und Mentor Richard Wagner verraten zu haben. Dessen musikdramatischer Stil war auch für die »Königskinder« das Maß aller Dinge. An allen Ecken und Enden der letztgültigen Opernfassung, der ein eigenständiges Melodrama mit durchgehendem Sprechgesang über einem auskomponierten Orchestersatz zugrunde liegt, lugen Wagnerianische Themen hervor.
Umso erstaunlicher ist mithin, was wir auf der Bühne des Zürcher Opernhauses zu sehen bekommen: der Regisseur Jens-Daniel Herzog und der Dresdner Bühnenbildner Mathis Neidhardt (das Team ist am Haus u.a. mit Inszenierungen von »Pique Dame« und »Tannhäuser« erfolgreich präsent) verorten das Märchen überzeugend in einer deutschen Kleinstadt des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Vielschichtigkeit des Textes spiegelt sich in der Grundidee Neidhardts, den Spielraum, eine Mehrzweckhalle, die jedoch mal Außen-, mal Innenraum und mal beides ist, durch Zwischenwände surreal aufzuladen; eine „Einladung zur unterschwelligen Bewusstseinserweiterung“ nennt das Mathis Neidhardt.
Hier treibt die Magd ihre Gänse durch die Hanfplantagen der Hexe, trifft am Brunnen auf den Königssohn, hier eröffnet der „Königsburger“-Stand seine Filiale, und hier sterben die vergifteten Königskinder, um fortan als verklärte Utopie durch die Träume der unschuldigen Kinder zu geistern. Erstaunlich, wie nahtlos sich der so märchenhafte Text ohne eine einzige Änderung in das moderne Setting Herzogs einpasst.
Heidi Thielemann
(Ausschnitt aus dem Beitrag “Deutsche Märchenoper, unerwartet undeutsch” der Zeitschrift “Das Orchester”, Ausgabe 1/08, S. 51. Ich danke dem Verlag Schott Music, Mainz, für die freundliche Nachdruckgenehmigung. Foto: M. Morgenstern)