Die Eltern haben ihre Heimat in Sizilien verlassen. Keine Arbeit, keine Chancen. In den Norden zog es sie, das will bei Sizilianern, die aus Palermo kommen, was heißen. Sie ließen sich in Zürich nieder, konnten sich eine bescheidene Existenz sichern, Italiener sind sie geblieben.
Mario ist mit 31 Jahren der jüngste von vier Brüdern, er wurde in Zürich geboren, hat einen italienischen Pass und muss aller zwei Jahre seine Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz verlängern lassen. Da wird man nicht automatisch mit der Geburt Schweizer Staatsbürger. Der Vater liebt Opern, gesungen hat er zu Hause. Einer der Brüder ist Hobby-Musiker. Den Jüngsten drängte es in die Bewegung, zum Tanz. Die Mutter hat das gefördert, der Vater sich nicht dagegen gestellt. Hartes Tanztraining, privat und zu bezahlen, in Zürich. Bis zum 16. Lebensjahr. Dann eine Pause. Bedenkzeit. Dann weiter, und zur Ausbildung nach Florenz. Und da fängt es schon an. Er ist unter den Italienern der Schweizer und in der Schweiz der Italiener.
Beim renommierten BallettO di ToscanA, im ersten Engagement, ist er damals der einzige „Ausländer“ mit italienischem Pass. Es folgen Arbeiten in der Schweiz, beim Berner Ballett, freie Arbeiten in Zürich, Fernsehen. Irgendwann, so mit 29, ist klar, die Choreografie ist es, die ihn beschäftigt, das will er lernen. Nach allem was er bis dahin weiß, was er erfuhr in der Ausbildung, in den Engagements, gibt es nur ein Ziel. Das heißt Dresden, genauer die Palucca Schule, eine Hochschule für Tanz mit einem Master-Studiengang für Choreografen, die Chance ein Meisterschüler zu werden, wo gibt es das sonst.
Der Name dieser Schule hat einen guten Klang. Von der Tänzerin Palucca und ihren Improvisationskünsten hat man gehört, von dem offenen Klima der Hochschule mit ihrem Rektor Jason Beechey, dem internationalen Kollegium, Studierenden aus der ganzen Welt, fast 30 Nationen sind derzeit vertreten, auch. Noch einmal, wenn auch in ganz anderer Weise, führt der Weg eines Mitgliedes der Familie Picardi Luna aus Sizilien um des Fortkommens willen weiter in den Norden Europas.
Die Bewerbung in Dresden ist erfolgreich, die Stadt auf den ersten Blick sehr angenehm. „Elbflorenz“, nenne sie sich, das hatte der Italiener aus der Schweiz gehört. Nicht ganz zu Unrecht, sagt er nach einem Jahr hier. Na ja, das Wetter, die Wärme…aber es bleibt dabei, der erste Eindruck war gut, daran hat sich bis heute nichts geändert. Dabei hatte er von Dresden zuvor nicht viel mehr gesehen als die Semperoper im Fernsehen im Zusammenhang mit einer Biersorte. Dass hier die ausgezeichnete Compagnie unter Aaron S. Watkin auftrete, wusste er auch. Inzwischen kennt er dieses Opernhaus besser und mit dieser Bühne verbindet sich für den angehenden Choreografen eines seiner größten und glücklichsten Erlebnisse.
Am Ende des ersten Studienjahres erhielt er im Rahmen der Matinee der Palucca Schule hier den Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und die völlig überraschende Einladung seines Rektors für die nächste Matinee, am 27. Juni 2010, eine Choreografie zu kreieren.
Mario Picardi Luna, für den gerade das zweite Studienjahr beginnt, fühlt sich hier akzeptiert, gefordert und gefördert. Die Stadt ist entspannt, sie stresst nicht, man kann hier gut arbeiten, dazu ist er ja hier. Die Strukturen der Ausbildung bieten ihm ein Höchstmaß an Chancen, die müsse man so erst mal suchen andernorts.
Ja, beunruhigende Eindrücke gibt es auch, etwa im Wahlkampf, die Plakate „Kriminelle Ausländer raus“, dahinter stecke Ignoranz als Folge mangelnder Bildung, dazu zählt auch die des Herzens, dann ist der Schritt in die Militanz nicht weit. Das sind Wahrnehmungen, die sich nicht ausblenden lassen, die positive Summe der Gesamteindrücke meines Gesprächspartners aber nicht grundsätzlich verändern. Wir müssen damit leben, dass das Glück kostbar ist, für ihn das Glück dieses Aufenthaltes in Dresden, sagt Mario Picardi Luna. Wir müssen mit der Brüchigkeit der eigenen Existenz leben, da wo wir sind, fügt er hinzu. Die Chancen seines Aufenthaltes in Dresden, die stehen für ihn im Vordergrund. Dazu gehören die der Ausbildung, die sich künstlerisch ausprobieren zu können, die der Kommunikation mit Freunden und Kollegen, viel verstehen zu wollen etwa von der Geschichte, der Kultur, hier im Osten Deutschlands und möglichst viele Gelegenheiten zu nutzen, sich selbst verständlich zu machen.
Und hier zu leben? Leben und arbeiten ja, warum nicht?
Eine Textfassung des Artikels ist am 25. September in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.
(Foto: Palucca Schule)