Auch wenn nicht alles, was der neue Intendant Dieter Jaenicke bislang vornehmlich in Gastspielen aus dem bewährten Repertoire der internationalen Moderne präsentierte, so ganz taufrisch war: für einen angenehmen Aufwind sorgte er damit auf jeden Fall. Und wenn es stimmt, dass der Ton die Musik macht, dann sorgen auch ansprechende Formen der Präsentation in Verbindung mit gelungenen Kommunikationsangeboten für angenehme Erneuerungen.
Dass der Tanz mit seinen offenen Formen für ihn eine gute Möglichkeit biete unterschiedliche Kunstformen zusammenzuführen, betonte Jaenicke gleich zu Beginn. Jetzt gibt es die erste regelrechte Hellerauer Neuproduktion, die Constanza Macras mit ihrer Compagnie Dorky Park, der Dresdner Philharmonie und dem Dresdner Kammerchor unter einem frei schwebenden Bühnenbild von Chiharu Shiota zusammenführt.
Uns führt das alles zunächst ins Erstaunen. Der große Saal des Festspielhauses, die berühmte Architektur des umbauten Lichts, ist zum Opernhaus geworden. Orchestergraben, Bühne, sichtgünstig ansteigende Zuschauerreihen, von denen leider etliche leer bleiben. Also eine Tourneeproduktion in den Saal gesetzt; so musste, wollte oder konnte man sich der besonderen Herausforderung des Raumes gar nicht stellen.
Im großen Bühnenraum hängen eine Unmenge von Möbelstücken neuerer und älterer Art. Tische, Stühle, Hocker, Kisten, Schränke sogar, und in Übergröße XXL hoch zehn ein festliches weißes Damengewand. Achtung! Bedeutung!
Darunter zunächst eine Tänzerin, dann weitere Frauen und Männer aus dem Ensemble der Constanza Macras. Sie kämpfen mit den Grenzen und Begrenzungen ihrer Körperlichkeit, nehmen vertrackte Körperhaltungen ein. Wenn sie zusammenkommen, gibt es erotische Konnotierungen, aber eigentlich sind sie vollends damit beschäftigt, sich einer immensen Kraft entgegen zubewegen, die sie immer wieder herunter zieht. Sie tanzen und springen mit aller Kraft in die Höhe, um nur immer unsanfter zu stürzen, zu fallen. Eine Abfolge von Fällen über die Unvermeidbarkeit des Fallens.
Inzwischen erfahren wir durch einen Sprecher, dass hier eine lateinische Version der Tragödie vom König Ödipus vorgeführt werde. Eine oratorische Oper von Igor Strawinsky mit dem Text von Jean Cocteau, von Jean Daniélou ins Lateinische übersetzt, 1926 uraufgeführt, 1948 bearbeitet. Das Drama nimmt seinen Lauf, Strawinsky und Cocteau bleiben nahe am fast 2500 Jahre alten Original, auch die Strenge der musikalischen Form zollt ihren Tribut an das antike Theater. Eine kluge Dramaturgie, von der noch heute Krimiautoren etwas lernen können. Ein Schuldiger, Vatermörder und Muttermann, will eigene, bis dahin unbewusste Schuld und Verstrickung aufklären, leugnet dieselbe noch sehenden Auges, verdächtigt und straft Garanten der Wahrheit, verstrickt sich tiefer und tiefer.
Der Akt seiner Erkenntnis ist ein tiefer Fall. Ein Volk ist befreit, aber der es befreit hat mit seinem Opfer, der sein Schicksal annimmt und keinen Finger mehr in Unschuld zu waschen sucht, der muss gehen. Ein abgründiges Welttheater: es spielt in den Labyrinthen jedweder Verstrickungen, mögen sie bewusst oder unbewusst sein. Immer sind es scheinbar Mächte, die vorherbestimmen, was gar zu gerne ausgeführt wird, um es dann zu verdrängen.
Zum musikalischen Verlauf senkt und hebt sich das Mobiliar in der choreografischen Inszenierung von Constanza Macras. Manchmal gelangen Möbelstücke auf den Boden, darin Bilder, Fetzen von Erinnerungen, eine Familienszene in Foto-Sequenz, Kinderspiel und Puppenspiel, ein nackter junger Mann mit Apfel als Objekt allgemeiner Begierden, eine Frau in Auseinandersetzung mit ihrem Pelz, eine andere die wild kreiselt und einen Schuh am Brustband trägt. Ist von der Königin Iokaste die Rede, senkt sich ein Spiegelschrank, ein Lotterbett auch mit Schmutz unterm Laken. So vollzieht sich zum Gang der Handlung aus Musik, Gesang und deutschem Sprechertext, bei dem die Sprecher immer jünger werden, bis am Ende wohlgeübter Kindermund die ganze Wahrheit über Ödipus kund tut, eine Abfolge von Bildern und Assoziationen durch höchsten Körpereinsatz der Tänzerinnen und Tänzer. Viele der Stilmittel sind sicher individuell in enger Korrespondenz mit Akteuren erarbeitet oder erobert.
Alles gerät aber auch hart an die Grenzen der Beliebigkeit. Mitunter entsteht der Eindruck, die Regisseurin habe den Faden in ihrem Labyrinth selbst verloren und steht mit ihrer Assoziationswut, ihrem Anliegen, eine Menschheitsgeschichte ganz menschlich zu erzählen, sich selbst im Wege. Auch bleiben letztlich die Künste unter sich. Von allem etwas, das Ganze lässt sich schwer fassen. Sollte das Absicht sein, dann ist es zu absichtsvoll geraten. Reibungen finden nicht statt.
Dass man das Hellerauer Team zu dieser Pilotproduktion aber dennoch nur beglückwünschen kann, liegt daran, dass die Tänzerinnen und Tänzer von großartiger Präsenz sind, kräftig und zart, berührend auch, wenn sie in einem Augenblick hellster Visionen so wunderbar einander tragen und ertragen.
Das liegt daran, dass mit den Herren des Dresdner Kammerchores in der Einstudierung von Jörg Genslein ein ausgezeichnetes Ensemble für diesen Part des kommentierenden Chores zur Verfügung steht. Die Mitglieder der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Max Renne spielen sicher exakt im Graben, bleiben aber in der Wahrnehmung stark beeinträchtigt durch die akustischen Verhältnisse, deren Auslotung einer längeren Erkundungsphase bedarf.
Bei den Solisten sind die grundsätzlich positiven Eindrücke unterschiedlich. Der Tenor Fritz Feilhaber gibt mit schlanker, gut geführter Stimme den Ödipus, in den Emotionen zurückhaltend. Bei der Mezzosopranistin Sabine Neumann scheint es an den Reserven für diese Partie grundsätzlich zu fehlen. Man horcht auf, wenn der Tenor Timothy Oliver in der knappen Partie des Hirten geschmeidigen, lyrischen Gestus einbringt.
Fotos: Thomas Aurin