1982 machte ein Gastspiel der Hamburgischen Staatsoper im Moskauer Bolschoi-Theater großen Eindruck. „Wozzeck“, so die Kritikerin Alexandra Datschitschjewa in der Zeitung „Sowjetskaja Kultura“, war der Höhepunkt des achttägigen Programms, in dessen Verlauf „Lohengrin“ und „Die Frau ohne Schatten“ sowie eine konzertante Aufführung von „Samson und Dalila“ zu erleben waren. Insgesamt lobte die Moskauer Kollegin die „Einheit von Musik, Regie und Ausstattung“.
Die Hamburger präsentierten in Moskau die hochgelobte Inszenierung von Luc Bondy mit Franz Grundheber in der Titelpartie und Anja Silja als Marie. Die Situationen unentrinnbarer und unabänderlicher Schutzlosigkeit seiner Protagonisten hatte Bondy mit seinem Ausstatter Rolf Glittenberg in ein erbärmliches Zelt als Spielort unter gleichgültig sonnenlosem Himmel verlegt. Dass Wozzeck aber am Ende bewusst mordet, mit eigener Kraft und Waffe für Gerechtigkeit sorgt, auch wenn er in seiner Frau Marie die falsche trifft, wollte der Moskauer Kritikerin weniger einleuchten.
Die erste Moskauer Inszenierung der Oper „Wozzeck“ von Alban Berg findet jetzt in der Neuen Szene statt. Hier hat das Bolschoi-Theater seine Interimsspielstätte, viel Ballett, weniger Oper, die Musik der Neuzeit eher selten. Das eigentliche Theater ist verhüllt und umgeben von Baugerät und Baugruben. Seit 1776 erhebt es sich als erstes Haus am Platze nicht weit vom Kreml und vom Roten Platz. Etliche Theater wurden in der Nähe gebaut, allein das Opernhaus mit dem festlichen Saal für 2300 Zuschauer, als eines der schönsten gerühmt, überragt alle. Uraufführungen gingen von hier aus um die Welt, „Schwanensee“, „Boris Godunow“. 1905 und 1917, in den Revolutionsjahren wurde das Theater nur leicht beschädigt, den zweiten Weltkrieg überstand es nahezu unbeschadet.
Das Haus war immer ausverkauft. Karten gab es auf dem Schwarzmarkt. Zeitweilig gab es die Devise, dass jedem Bürger der Sowjetunion ein Besuch im Bolschoi-Theater zustehe. Man verlegte die Aufführungen in das Breitwandformat der Estradenbühne ohne Tiefe im nahen Kreml-Palast und konnte so bei miserabler Tontechnik mit Standmikrophonen gleich ein paar tausend Menschen mehr beglücken.
2005 aber fiel vorerst der letzte Vorhang im Bolschoi-Theater. Wann die inzwischen verblichene Verhüllung fallen wird, ist unklar. Der für 2008 geplante Termin der Wiedereröffnung ist verstrichen, vom nächsten im Jahre 2011 ist nicht mehr die Rede. Derzeit heißt es, 2013 werde das Haus eröffnet. Zunächst waren da die Schreckensmeldungen über das Ausmaß der Schäden; besonders gravierend die an den Fundamenten und der Fassade, denn das Theater wurde auf Pfählen in einem Sumpfgebiet errichtet. Inzwischen sind es die über Korruption, Vergeudung, Prozesse und Kostenexplosionen im Zusammenhang mit der Sanierung.
Aber, davon konnte man sich bei der jüngsten Opernpremiere des Bolschoi überzeugen: wenn gespielt wird, dann wird – wie im jüngsten Falle – hohe, streitbare Qualität geboten. Jetzt steht in Moskau der junge griechische Dirigent Teodor Currentzis am Pult und lässt mit erregender Intensität die Musik Alban Bergs in ihrer Nähe zur todtraurigen Melancholie Gustav Mahlers und ihrer Vorausahnung der fratzenhaften Visionen eines Dmitri Schostakowisch zum Ereignis werden. Das Orchester des Bolschoi-Theaters erweist sich als grandioser Klangkörper, vermag den Bogen zu spannen von kammermusikalischer Zerbrechlichkeit bis hin zu den mörderischen, erschreckenden und verstörenden Abgründen, die sich eröffnen in den Zwischenspielen, den Nachklängen oder Vorausahnungen der zumeist nächtlichen Szenen dieser Fragmente einer menschlichen Passion.
Dieser Unentrinnbarkeit der Musik entspricht die Inszenierung von Dimitri Tcherniakov im eigenen Bühnenbild. Es beginnt schon, bevor die ersten Takte erklingen. Im schwarzen Zwischenvorhang eröffnen sich dem Zuschauer zwölf Einblicke. Zwölf Zimmer gleichen Maßes, in drei Stockwerken gewissermaßen, zwölf annähernd genormte Einrichtungen, zwölf Familien, bzw. jeweils Mann, Frau, Kind, öfter riesiger Bildschirm, immer aber bei völliger Abwesenheit von Kommunikation oder Nähe. Weil der Regisseur bei aller Detailgenauigkeit dennoch zu unterscheiden weiß zwischen Realität und Naturalismus, bleibt der Zuschauer einbezogen und muss sich behaupten im Spannungsfeld zwischen Distanz und fast unerträglicher Nähe.
Mit den ersten Takten schließen sich die Einblicke und für die jeweils knappen Bilder des Dramenfragmentes öffnen sich entsprechende Räume. Die Tragödie des armen Mannes Wozzeck, der korrekt mit schmalem Schlips im grauen Anzug gekleidet ist, durchwandert die Wohnungen, beginnt beim Hauptmann, der hier nicht mehr rasiert wird, sondern den Wozzeck in einer besonders perfiden, militärischen Sado-Maso-Variante erniedrigt und endet nach dem Mord in den eigenen vier Wänden. Wozzeck hat die tote Marie wieder an den Tisch gesetzt. Wüssten wir nicht, was geschehen ist, man merkte es nicht, dass da in einer der vielen Stuben ein toter Mensch sitzt und alles irgendwie weiter geht unter dem Mond, von dem Wozzeck meint, er sei „ein blutig Eisen“.
Mit eiserner Härte hat Tcherniakov in ein zeitgemäßes Bild gesetzt, was zeitlos ist, nämlich „Die Wunde Woyzeck“, von der Heiner Müller anhand der Wirkung des Dramenfragments von Georg Büchner sprach. Ein in allen Partien musikalisch und darstellerisch überzeugendes Ensemble mit einem verstörend scharfsinnigen Georg Nigl in der Titelpartie und Mardi Byers als Marie, deren lyrische Zerbrechlichkeit und tragisch verblendete Auflehnung zutiefst berühren, macht den Abend zu einem so außergewöhnlichen wie intensiven Ereignis mit der so selten gewordenen Langzeitwirkung einer Opernaufführung. Erinnert man sich an die Bilder der Hamburger Aufführung in Moskau vor 27 Jahren, dann liegt der Schluss nahe, dass Erniedrigte und Beleidigte heute auch in Moskau kaum an ihrem Äußeren erkennbar sind und vier Wände aus Beton auch nicht mehr Schutz bieten als ein durchlöchertes Zelt.
Fotos: Damir Yusupov