Die vieraktige Oper beginnt im Sommer, es folgt der Herbst und dann der Winter, dem sind sogar zwei Akte vorbehalten. Schon im Sommer kündigt sich die kalte Jahreszeit. Eine Kinderschar übt sich an einem Weihnachtslied. Da denkt man aber noch nicht daran, dass die Stimmung am Ende des Dramas alles andere als weihnachtlich sein wird.
Im Moment herrscht im Haus des Amtmanns, von dem wir einen stattlichen Salon sehen, mit Galerie darüber samt kostbarer Bibliothek, jedenfalls rein äußerlich Umbruchstimmung. Hier wird renoviert. Neue Möbel sind gekommen. Der Raum im Grunde könnte gut in Wetzlar stehen, im Jahre 1772. Die Menschen darin aber sind von heute. Drei von ihnen, Charlotte, Albert und Sophie, auf die es ankommen wird in ihrem Verhältnis zu Werther, in den drei Jahreszeiten eines nicht gelebten Lebens, sind äußerst gut gekleidet. Sie sind nicht arm, Geschmack haben sie und irgendwie scheint das Leben sie schon in ihre Bahnen gebracht zu haben.
Fotos: Gunars Janaitis
Da taucht Werther auf, eigentlich rein dienstlich. Er soll mit Charlotte ausgehen, weil der Verlobte Albert auf Geschäftsreise ist. Und dieser Werther, der ist auch von heute, und auch wieder nicht. Ein junger Mann, zunächst etwas linkisch, dann mit einer Jungenhaftigkeit, für die er eigentlich das Alter nicht mehr hat, und alles ist anders. Der junge Mann ist eigentlich der von Goethe, aber mit den musikalischen Farben von Jules Massenet von 1892 auch ein nicht mehr ganz zeitgemäßer Romantiker. Die naiv fröhliche Sophie, Charlottes jüngere Schwester, ist erst entzückt und dann verknallt. Charlotte, kurz vor der Hochzeit mit Albert, dem wohlsituierten Garanten für gutes Leben im maßgeschneiderten Zweireiher, ist verwirrt. Werther selbst ist in Charlotte, diese sanfte Schönheit, sofort verliebt. Er singt und es wird Frühling, für einen Moment, in seinem Kopf.
Charlotte bleibt auch nicht ungerührt, aber sie hat es der Mutter versprochen, auf dem Sterbebett: sie heiratet Albert.
Das geht nicht gut, das endet tödlich, Werther erschießt sich mit Alberts Pistole, die der ihm überlässt, angeblich um sicher auf Reisen zu gehen, was ja dann auch irgendwie zutrifft, nur dass es seine letzte Reise ist. Charlotte gesteht dem Sterbenden ihre Liebe. Diesen Weihnachtsabend wird sie nie verwinden, den Frühling wird sie fortan immer streichen. Albert und Sophie kann es eigentlich nicht viel besser gehen.
Geradlinig, fast ohne Wertungen, so gut wie ohne Kommentare, frei von allen Nebensträngen, hat Rigas Opernchef Andrejs Zagars die französische Geschichte nach Goethe im Raum mit den vielen Türen und den Ausblicken auf die drei Jahreszeiten von Ivea Kaulinka erzählt. Das Quartett der Unglücklichen hat Kristine Pasternaka eingekleidet, Sophie und Charlotte vom Feinsten. Komisch, das ist scheinbar alles so unzeitgemäß, dann sitzt man in der Oper und wird das Gefühl nicht los, sich ab und zu nach so völlig unzeitgemäßen Erlebnissen zu sehnen. Aber kostbar verpackt müssen sie sein, wie ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk.
Massenets Musik und seine Gestaltung des Goethe-Stoffes hat viel Kritik erfahren. Vielleicht ganz gut, dass man in Riga bei der Aufführung dessen getupfte Passagen in sanftem Pastell nicht leugnet, aber auch nicht zu überhören ist, dass man hier auch gern die Farben kräftig aufträgt. Unter der Leitung von Modestas Pitrenas mischen sich impressionistische Farbspiele mit handfesten spätromantischen Ballungen. Mit der polnischen Sopranistin Malgorzata Panko und dem spanischen Tenor Xavier Moreno in den Hauptpartien wird eine Festivalbesetzung geboten, deren musikalische Interpretation vor allem von starker Wirkung ist, in den großen Szenen, in den Duetten und Arien, die des Werther vor allem, Pathos mit Geschmack und Maß, auch in den klangvollen Spitzentönen. Beide zeichnen warm und dunkel timbrierte Stimmen aus.
Beweglich im Spiel und im Gesang, Gunta Davidcuva als Sophie, mit leichtem und hellem Sopran, rollengemäß eher zugeknöpft und beherrschter auch im Gesang, Imants Erdmans als Albert. Romans Polisadovs ist der Amtmann und Schüler der Rigaer Domschule sind die Kinder.