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Unterirdisch himmlisch!

Zehn Finger. Ein Flügel. 36 schwarze und 52 weiße Tasten. Mathematiker könnten die Vielzahl denkbarer Möglichkeiten errechnen. Musiker fingern sich an diese Fülle heran. Einige gebaren sich dabei als Mechaniker, andere als technisch begabte Seelenverkäufer, manche sind virtuos und einige wenige schlichtweg genial. Aber dann kommt Vijay Iyer nach Dresden, eröffnet mit einem Solo im 9. Jubiläumskonzert „10 Jahre Neue Tonne“ die Herbstsaison auf der Königstraße und erweist sich als Arbeiter im Berge.

Foto: Matthias Creutziger

Der amerikanische Autodidakt mit indischen Wurzeln klimpert nicht, er tastet nicht, sprengt keine Grenzen – er schürft! Und legt damit neue, schier grenzenlose Welten frei. Wo andere die Spitzhacke schlagen, nimmt er den Beitel. Schicht um Schicht öffnet er Klangraum. Muttererde, nassdunkle Akkorde in Harmonie und Dissonanz, erweist sich als fruchtbar und birgt spitzes Gestein ebenso wie feinnerviges Wurzelwerk in sich. Kontrapunktisch umkreist Iyer die tonalen Widerstände, findet aufstrebende Leitlinien sowie vitale Kraftbatzen, die sich voller Brillanz entfalten wollen. Manchen gebietet er Einhalt, verwirft, anderen lässt er die Chance, melodisch aufzublühen, lichtvoll zu strahlen. Und jederzeit himmlischer Vortrag, unaufgeregt, aber fingerfertig bis ins Detail. Nirgendwo ein Verwässern, ab und an absichtsvoll trockengelegte Substanz, mitunter ein abruptes Finale. Nie aber Sackgassen.

Das energiegeladene Substrat seines Klavierspiels ist ein eigenwilliges Musizieren. Er eignet sich Materialien etwa von Altmeistern wie Duke Ellington, Andrew Hill und Thelonious Monk bereitwillig an, ohne sie aber bloß auszuschlachten oder gar schlicht zu missbrauchen. Nein, Vijay Iyer ist als Improvisator, Interpret und auch als Komponist begnadet genug, dass er im scheinbar Bekannten neue Welten entdeckt, sie experimentierfreudig umwidmet und in der Folge sogar einen Michael-Jackson-Hit mit Chopin ausklingen zu lassen vermag. Die spielerische Aneignung gelingt dem eine Aura der Sympathie ausstrahlenden Musikanten nicht nur bei bekannten Vorlagen, sondern auch in den ureigenen Schöpfungen, die sich mal ums Erinnern an die Großeltern und mal um die Erfahrungen drehen, den eigenen Körper von außen beobachten zu können. Das spielt sich alles in einem klugen Kopf ab, in einem ganz gewiss sehr gescheiten Schädel, und spinnt sich über die unglaublich agilen Finger – die halten sogar einem Marsch in Bluesrhythmen stand! – via Elfenbein bis in die schwirrenden Stahlsaiten fort. In den Gehörgängen des zahlreichen Publikums entpuppt sich dann der wahre Schatz solcher Entdeckerfreude.
Zehn Finger. Ein Kosmos.

 

Eine Textfassung des Artikels ist am 17. September in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.