Getanzt wird in New York eigentlich überall und zu jeder Zeit. Allein die Chance, von einer Straßenseite zur anderen zu kommen, sich dem Tempo anzupassen um in die Metro hinein und wieder heraus zu kommen, erfordert nahezu tänzerisches Talent und geschmeidige Wendigkeit. Nur so ist es möglich, abends pünktlich eine der vielen Musicalaufführungen am Broadway zu besuchen, in denen selbstverständlich getanzt wird.
Klassisch, aber ganz und gar nicht verstaubt, geht in Bernsteins Dauerbrenner „West Side Story“ allabendlich im ehrwürdigen Palace Theatre die Post ab. Man spielt das Original, und man bewundert die Perfektion des Bühnenbildes und stellt fest, wie genial doch diese reduzierte Andeutung der Szenen ist und mit welcher Wucht sich zur tödlichen Kampfszene die Betonbrücke einer Hochstraße herabsenkt. Eine exzellente junge Truppe gibt der zeitlosen Story die Gesichter der Gegenwart, sie singen alle hervorragend, zumeist mit ihren Naturstimmen, vor allem aber sind es die Tänze der Originalchoreografie von Jerome Robbins, die einfach nicht zu toppen sind.
Um den Tanz direkt, um die Idee von der Freiheit der Bewegung, geht es ein paar Straßen weiter im Imperial Theatre. Kein Geringerer als Elton John schrieb die Musik zum Musical „Billy Elliot“ nach dem gleichnamigen Film über den Jungen, der aus der Tristesse einer abgewickelten Minenarbeitersiedlung der Thatcher-Zeit, gegen den Widerstand seiner so rechtschaffenden, aber hilflosen und vor allem verklemmten Community in die Freiheit springt. Schluchzen erlaubt, Jubeln auch, bei Elton Johns sentimentalen Songs oder seinen krachenden, rockigen Passagen. Aber auch hier, im Stück über den Tanz, es ist der Tanz, es sind die Choreografien von Peter Darling, und besonders die für die Truppe schwerfälliger Arbeiter deren Streikwut sich in die Kraft der Gruppenbewegung verwandelt, es sind die total ausgeflippten Verkleidungsnummern, in denen Billy mit seinem Freund Michael absteppt dass die Wände wackeln. Dann mischen sich wieder klassische Passagen a lá „Schwanensee“ mit Rock und Stepp, und alles kommt zusammen im Broadway-Show-Finale. Unmöglich sitzen zu bleiben, der Tanz reißt hoch.
Im sagenhaften Apollo, in der 125. Straße in Harlem, die nach Martin Luther King benannt ist, gehört seit 1934 die Bühne den Amateuren. Jeden Mittwoch ist Amateur Night und die Post geht ab, selbstverständlich wird getanzt auf den Brettern, auf denen auch schon Michael Jackson steppte. Seit 2006 gibt es dazu sonnabends die „Salon Series“, aktuell mit Bernt Sugar The Orchestra Chambers, Opera in Progress, eine so witzige wie vor allem umwerfend temperamentvolle Hommage an James Brown, dessen Songs hier von großem Orchester mit Chor, Solisten und Tänzern, der jüngste mag vielleicht vier und der älteste 60 Jahre alt sein, dermaßen mitreißend hingelegt werden, dass schon bald niemand im Saal mehr sitzen mag, Bühne frei für alle.
Dieser allgemeinen Tanzbegeisterung und Vorliebe für populäre Formen zollen auch so berühmte Companien wie das ehrwürdige New York City Ballet im Lincoln Center, neben der Met, ihren Tribut. An fast jeden Abend stehen Choreografien von Balanchine auf dem Programm, zum Finale immer ein richtiger „Rausschmeißer“ zu amerikanischer Folklore, zu klassischen Hits oder ähnlichem.
New York hat zudem tatsächlich einen Tempel für den Tanz, das ist nicht übertrieben, denn das City Center in der 55. Straße wurde einst als Tempel der Freimaurer gebaut. An der maurischen Fassade und der großen Kuppel des Gebäudes ist das bis heute zu sehen. Seit 1939 ist hier das American Dance Theater zuhause, außerdem machen hier alle bedeutenden nationalen und internationalen Truppen Station, wenn sie in New York gastieren. Seit 2004 findet hier das Fall for Dance Festival statt, in diesem Jahr mit 20 renommierten Company in fünf Programmen, die je zwei Mal gezeigt wurden. Geworben wird mit einem Motiv, das fliegende Tänzerinnen und Tänzer über der berühmten Skyline von Manhattan zeigt. Und da fliegt auch Jón Vallejo vom Dresden Semperoper Ballett, dessen Mitglieder im Finalprogramm des Festivals am 8. und 9. Oktober ihr Debüt in New York geben. Das ist ein voller Erfolg.
Exactissimo: Heylmann und Genov (Foto: PR)
Sie kreiseln, sie springen, sie jagen in wildem Tempo über die Bühne, drei Tänzerinnen in den immer wieder erheiternden, zu grünen Tellern gewordenen Tutus und zwei federnde, fliegende Tänzer in violett. Angespornt vom überhitzten Tempo des Allegro vivace aus Franz Schuberts 8. Sinfonie in C-Moll, nach neuerer Zählung Nr. 7, geraten Anna Merkulova, Leslie Heylmann, Chantelle Kerr, Maximilian Genov und Jòn Vallejo in jenen mitreißenden Geschwindigkeitsrausch der unverwüstlichen Choreografie William Forsythes aus dem Jahre 1996, die er „The Vertiginous Thrill of Exacitude“ nennt, und die eine wunderbare, augenzwinkernde Verbeugung vor den Vätern der Klassik und Neoklassik ist. Petipa und Bournonville grüßen hier ebenso vergnügt wie Balanchine und Cranko.
Sie müssen einfach ihre Freude daran haben, wie die Mitglieder der Dresdner Companie mit Bravour, absoluter Könnerschaft und individueller Ausstrahlung die Sympathien des äußerst differenziert reagierenden Publikums im ausverkauften Saal mit seinen 2000 Plätzen gewinnen. Die Dresdner sind in dieser Show in bester Gesellschaft in einem Programm, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Taro Saarinen sucht in seinem Solo „Man in a Room“ von Carolyn Carlsen, das er 2007 zu den Dresdner Musikfestspielen vorstellte, noch immer zur Musik von Gavin Bryans und Apocalyptica nach Hosen und Farben, die zu ihm passen im introvertiert performativen Spiel. Eigentlich zu kurz um den stilistischen Wandel mit zu vollziehen ist Sir Frederick Ashtons „Thais Pas de Deux“ zur elegischen Meditation für Violine und Orchester aus der Oper von Jules Massenet von 1971. Hee Seo und Jared Matthews vom American Dance Theatre gestalten in fließender Schönheit diese exotische Traumsequenz in orangefarbener Märchenhaftigkeit, die sich seit Mai dieses Jahres im Repertoire der Companie befindet.
„Grace“, so der fulminante Schluss des Programms mit der Ronald K. Brown / Evidence, A Dance Company. Zu Gospelanklängen, Soul, Rock und wummerndem Discosound mischen die allein von ihren Erscheinungen her außergewöhnlichen neun Tänzerinnen und Tänzer rituelle und religiöse Bewegungsmotive mit Elementen der Show und der Ekstase selbstverlorener Discotänzer. Kein Entrinnen. Die Kreation von 1999 hat suggestive Kraft. Dazu die Präsenz der kraftvollen Truppe aus Brooklyn, in der sich transformierte Tanztraditionen aus Afrika mit denen der Moderne aus Amerika und dem top-sicheren Kalkül des Broadways mischen.
Aber auch dagegen konnten sich die Dresdner behaupten mit der Eleganz ihrer neoklassischen Tugenden, die sich auf sicherem klassischem Fundament gründet und keinen wummernden Aufreißer für den Applaus braucht. Bedenkt man zudem die Entwicklungen der Tänzerinnen und Tänzer, dann kann Ballettchef Aaron S. Watkin stolz mit ihnen und ihrem Erfolg im Gepäck zurück fliegen, kräftig auftanken um im November schon mit der ganzen Companie zu einem mehrtägigen Gastspiel nach Spanien aufzubrechen.