Kein Leid ist vergleichbar. Dresden und Coventry nicht – obwohl das Desaster beider Städte recht eng miteinander verbunden war – und schon gar nicht Dresden und Hiroshima. Aber auch diese drei Orte gehören zu einer längst unendlich gewordenen Kette menschlicher Leidensgeschichten; im umfassenden Sinne menschlich, denn überall haben Menschen nicht nur unsäglich gelitten, haben Menschen grausam Leid ausgeteilt, sondern stets war die Ursache dafür auch das komplette Versagen von Menschen. Menschen in Ämtern, Menschen in Uniformen, Menschen in Religionstrachten.
Wohin das Auge blickt: Gomorrha, Karthago, Guernica, Srebrenica, Darfur … – und eben auch Coventry, Dresden, Hiroshima – überall auf dem Globus hat der Mensch Spuren seiner Gewalt hinterlassen und sich wie seinesgleichen damit Gedenkstätten eines vielfachen „Nie wieder!“ geschaffen. Wer angesichts dieser offenbar werdenden Unfähigkeit zum Lernen, Begreifen und Bessern keine Worte mehr findet, wem sich die Sprache versagt, der sollte durchaus auf Verständnis hoffen dürfen.
Dass resignierendes Schweigen freilich kein Weg ist, um ein Dilemma erträglicher werden zu lassen, liegt auf der Hand. Immer wieder haben insbesondere Künstler die benannten Stätten zum Anlass für bleibende Denk-Male genommen – erinnert sei nur an Brechts „Offenen Brief an die deutschen Künstler“ von 1951 mit dem berühmten Karthago-Zitat oder an Picassos grandioses „Guernica“-Bild von 1937.
In Coventry, dessen flächendeckende Zerstörung durch die deutsche Luftwaffe 1940 ausgerechnet mit dem höhnischen Begriff „Unternehmen Mondscheinsonate“ bedacht worden ist, erinnern heute bekanntlich sowohl die Ruine der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Kathedrale als auch der 1962 geweihte Neubau an das Verbrechen der Deutschen. Das dortige Nagelkreuz ist inzwischen weltweit verbreitet und könnte, nicht zuletzt in Dresdens Frauenkirche, als humanistisches Versöhnungszeichen gedeutet werden. Deren Wiederaufbau mag ebenso wie die sogenannte Atombombenkuppel von Hiroshima ein sichtbares Mahnmal gegen jeglichen Krieg sein. Den Opfern der – von zahllosen Tests abgesehen – ersten und einzigen beiden Atombombenabwürfen in der Geschichte der Menschheit durch die USA ist mit Alain Resnais‘ Filmdrama „Hiroshima, mon amour“ ein unsterbliches Denkmal gesetzt worden. Dem Bombardement Dresdens widmen sich vergleichbar eindrucksvolle Romane wie „Das steinerne Brautbett“ (1959) von Harry Mulisch sowie Kurt Vonneguts „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ (1969).
„Feuer, nur Feuer, wo wir auch hinsahen …“
Mit der Komposition „Sternlose Nacht“ von Toshio Hosokawa kommt nun ein neues Werk zur Entfaltung, das sich konkret den traumatischen Daten in der Geschichte von Dresden und Hiroshima widmet, dem 13. Februar und dem 6. August 1945, darüber hinaus aber von allgemeingültiger Natur in die Welt klingen dürfte. Nur einen Monat nach der Uraufführung durch das Mahler Chamber Orchestra unter Kent Nagano im Festspielhaus Baden-Baden wird die Dresdner Philharmonie dieses oratorische Auftragswerk übernehmen und unter der musikalischen Leitung von Leonard Slatkin in der Frauenkirche aufführen. Ein geradezu symbolischer Ort für diese Musik, die der 1955 in Hiroshima geborene Hosokawa zu Texten von Georg Trakl, Gershom Scholem, Walter Benjamin und nach Augenzeugenberichten aus Dresden und Hiroshima komponierte.
Seine Eltern hatten den atomaren Angriff miterlebt und zumindest körperlich unversehrt überstanden. Ihre seelischen Narben dürften wohl nie völlig geheilt sein, obwohl sie die zerstörte Stadt alsbald danach verlassen hatten. Ihrem Sohn vermochten sie erst, als der schon erwachsen alt war, von ihren persönlichen Eindrücken dieser Katastrophe erzählen. Er ist wenig später nach Deutschland gegangen, wo ihn vor allem Isang Yun, Klaus Huber und Helmut Lachenmann prägten und unterrichteten. Ausgerechnet während seiner hiesigen Studienzeit und in der Konfrontation mit der europäischen Moderne wurde der Komponist auf seine japanischen Wurzeln gebracht, stieß überraschend auf mancherlei Nähe von Fernost-Historie und Europa-Gegenwart; bei mehreren Besuchen in Dresden konnte er sich zudem gründlich mit den historisch-symbolischen und den akustischen Herausforderungen der Frauenkirche befassen.
Als Resultat liegt ein Werk vor, in dem sowohl deutliche Anknüpfungspunkte der westlichen Musikentwicklung als auch der asiatischen Tradition ineinander verwoben sind. Ein Hörereignis steht zu erwarten, das übersetzte Kalligrafie zu sein scheint, Musik gewordene Spiritualität, die schon aufgrund ihrer Textauswahl Bekenntnischarakter besitzt – und obendrein auf die Bedingungen in diesem ja recht speziellen Klangraum hin geschrieben worden ist. Um Trakls Gedicht „Verklärter Herbst“ rankt sich in Form eines jahreszeitlichen Reigens das Zyklus gewordene Bild vom Werden und Vergehen. Wie ein Aufschrei wird hier jedoch nicht der natürliche Jahreslauf beschworen, sondern dessen durch menschliche Unvernunft erzeugte Versehrtheit. „Feuer, nur Feuer, wo auch immer wir hinsahen …“ heißt es in einem Augenzeugenbericht von der Zerstörung Dresdens.
„Es ist gut …“
Georg Takl klingt nur bei oberflächlicher Betrachtung versöhnlicher. Gründlich gelesen, verdüstern seine 1909 erstmals veröffentlichten Zeilen den Sinn der eingefahrenen Ernte. Sie dient kaum mehr dem Überwintern, dem neuen Anfang in einem hoffnungsvoll fernen Lenz, sondern ist Abschied, Rückblick, Resümee. Der Expressionist entlarvt sich im nur seichten Verstecken seiner Botschaft gerne selber: Hier wird verklärt und einerseits noch goldner Wein und Gartenfrucht gepriesen, während es doch längst gen Herbst, gen Ende geht, kaum mehr viel zu sagen bleibt, die Reihen ringsum sich lichten, Altersweisheit Raum bekommen kann, ein weiteres Mal der Kahn zum Topos des Morbiden taugt.
Trakl selbst hat keine Zeit gehabt, eine Ernte einzufahren – der an der Welt verzweifelnde Schöngeist starb im Alter von nur 27 Jahren schon wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs in einem Krakauer Lazarett. Die eigene Hilflosigkeit angesichts des Leidens ringsum hat ihn zum Schweigen gebracht. Was für ein Aufschrei!
Dass Toshio Hosokawa auf diese Dichtung kam, scheint erstaunlich genug. Aber hat sie entfernt nicht auch mit Ikebana zu tun, jener traditionellen japanischen Kunstausübung, die Hosokawas Großvater praktizierte und die das Vergehen, das Aufgehen von frischer Blüte in einem moribunden Stillleben impliziert? Die verquer anmutenden Parallelen gehen noch weiter: Wie der heute in Nagano, einer Stadt im mittleren Westen von Japan lebende Komponist einräumt, sei er erst von Helmut Lachenmann auf bedeutsame Schriften japanischer Meister aufmerksam gemacht worden. Insbesondere die Fragilität des Erblühens in einer von Vergänglichkeit geprägten Welt muss ihn hintergründig beeinflusst haben. Die „Sternlose Nacht“ darf gewiss als Memento an – in diesem Fall: Gegen! – gewaltsames Zerstören gehört werden.
Die Dresdner Erstaufführung dieses musikalisch wie inhaltlich bedeutsamen Werkes ist mit der Einleitung aus Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ gekoppelt. Eine kluge Dramaturgie stellt das biblisch-legendäre Szenarium von der Erschaffung der Welt in einen spannungsvollen Kontext mit den bis heute unüberwundenen Leidensgeschichten, die Toshio Hosokawa als „Sternlose Nacht“ vertont hat.