Nein, Einbildung war das nicht. Ganz verwandelt klang an diesem Wochenende das Orchester der Landesbühnen. Gravitätisch durchmaßen die Musiker die "Tragische" Brahms-Ouvertüre d-Moll. Hochkonzentriert begleiteten sie Susanne Grützmann, die das selten zu hörende Klavierkonzert Nr. 1 von Clara Wieck mitgebracht und zu einem kleinen Diamanten geschliffen hatte. Die fantasievoll perlenden Verzierungen der rechten Hand lassen an Salonwerke Chopins denken und kamen auf dem kleinen Flügel des Radebeuler Stammhauses jedenfalls besser zur Geltung als auf jedem wuchtigen Bühnen-Steinway, den Dresdens größere Häuser für diesen Anlass aufgefahren hätten. Clara Wiecks ursprünglich einsätziges Werk wurde von ihrem späteren Ehemann, der damals im Hause Wieck als Klavierschüler lebte, nicht zu seinem schlechteren instrumentiert; der Beginn und ein romantischer Mittelsatz, in dem der Cellopart, von Martin Mühlbach feinsinnig bis leidenschaftlich interpretiert, wohl den zukünftigen Ehemann spiegelt, später von Clara angefügt. Auch wenn eine Frauenquote momentan im Klavierrepertoire schwerlich durchzusetzen wäre: dieses stellenweise geistreiche, immer kurzweilige Konzert verdiente mehr Aufmerksamkeit schon in den Musikhochschulen.
Punktgenau servierten die Musiker nach der Pause auch Schumanns Sinfonie Nr. 2 C-Dur. Die rasenden Notenketten des Scherzos verbreiteten sich in den Streichern wie ein Lauffeuer, Bläser und Schlagwerk illustrierten den Ernst der Lage. Und in den elegischen Tonlandschaften des expressiven Adagios bewiesen Oboe und Fagott träumerisch langen Atem und Generalmusikdirektor Michele Carulli den Weitblick, die große Form angemessen zu gliedern, der bei früheren Konzerten vielleicht manchmal zu wenig Aufmerksamkeit bekam. Was war also passiert?
Der Dirigent versuchte für das augenblickliche kulturpolitische Radebeul-Dilemma passende Worte zu finden. Ernst ließ er die Jahre seiner Amtszeit Revue passieren, verglich die Kulturpolitik seines Heimatlandes Italien mit der hiesigen. Lobte die deutsche Kulturlandschaft, und fand starke, aber angemessene Bilder für "diese Politiker", die das, wofür Deutschland im Ausland bewundert wird, ausschließlich nach finanziellen Gesichtspunkten und mit einem Weitblick, der mit der Wahlperiode endet, beurteilen. Carulli erinnerte daran, dass die Landesbühnen das Orchester im Freistaat sind, das die Kultur in die Breite trägt. "Beethovens Neunte im Fernsehen, schön und gut – aber das ist Fassade. Damit der Baum Blüten bekommt, Früchte trägt, braucht er Wurzeln – und wir sind diese Wurzeln". Das Publikum dankte die Schlussrede wiederum mit feurigem Applaus, sprang nach dem zugegebenen Satz der Beethovenschen Schicksalssinfonie wie ein Mann aus den Sitzen und bravohte so laut, dass man das Echo noch im Landtag hätte hören müssen.
Eine Textfassung des Artikels ist am 2. November in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.