Nicht zum ersten Mal kommt jetzt an Dresdens Semperoper eine neue Musiktheaterproduktion von Hans Werner Henze heraus, am Samstag hat die eben erst fertiggestellte Dresdner Fassung der Oper „Gisela!“ Premiere. Die Uraufführung dieses gemeinsamen Auftragswerks, mit Untertitel „Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“, fand Ende September in Gladbeck statt. Zum diesjährigen Kulturhauptstadt-Programm Ruhr 2010 ist dem 1926 in Gütersloh geborenen Henze ein umfangreiches Vorhaben gewidmet, das „Henze-Projekt“, um ein breites Publikum mit seinem Schaffen vertraut zu machen. Kurz vor der Dresdner Premiere von „Gisela!“ sprach Michael Ernst mit dem Komponisten, der seit 1953 in Italien lebt und längst als Altmeister unter den europäischen Neutönern gilt.
Maestro, wieder eine Henze-Premiere in Dresden, nach „Bassariden“ und L’Upupa“ ein ganz neues Werk von Ihnen – fühlen Sie sich an dieser traditionsreichen Stätte gut aufgehoben?
Hans Werner Henze: Meine Erfahrungen hier sind immer sehr positiv gewesen. „Die Bassariden“ habe ich als wunderbare Inszenierung in Erinnerung.
„Gisela!“ ist quasi noch jungfräulich. Obwohl im September erst in Gladbeck herausgekommen, haben Sie für Dresden eine überarbeitete Fassung erstellt. Wie gravierend sind die Unterschiede?
Bei der Ruhr-Triennale sollte es ja etwas sein für junge Instrumentalisten, Kunst- und Theaterstudenten. Gewissermaßen zu Übungszwecken. Und natürlich auch zur Kenntnisnahme der neuzeitlichen Moderne, der gegenwärtigen Tonsprache und ihrer Ausdruckswelt. Das ist es dann auch tatsächlich geworden. Die Leistungen der jungen Leute waren hervorragend, sehr lebendig, wie die bei der Sache dabeigewesen sind. Aber die Voraussetzungen für die szenische Umsetzung sind natürlich sehr unterschiedlich gewesen – dort entstand das Projekt für eine Industriehalle, hier in einem Opernhaus.
Und dann gab es in der Konzeption zur Uraufführung drei Träume, die Michael Kerstan gedichtet hat. Eine Kompilation aus Grimmschen Märchen, inhaltlich ist das geblieben, aber musikalisch habe ich etwa um ein Drittel gekürzt und neu instrumentiert, beim dritten Traum auch einiges neu komponiert. Außerdem gibt es im zweiten Teil von „Gisela!“ noch ein neues Lied für den Tenor und im Finale einige Veränderungen, Verlängerungen und Zuspitzungen musikalischer Art.
Zum Glück gibt es ja E-Mail heutzutage. Das hat die Sache ermöglicht und erleichtert.
Zu Ruhrtriennale und Kulturhauptstadt Europa gab es einen wahren Henze-Reigen. Macht Sie das glücklich?
Was meinen Sie, glücklich? Es hat mich sehr gefreut. Meine Vorfahren stammen aus dem Kohlenpott. Das ist jetzt eine neue Erfahrung für mich. Ich bin schon so lange nicht mehr hiergewesen. Aber nach der Art und Weise, wie die Leute hier leben – ihr Lebensstil, die menschlichen Beziehungen untereinander –, das hat schon was besonderes. Mir kam es so vor, als ob ich mich da sehr gut verständigen konnte.
„Gisela!“ ist eine Oper vom Glück, von der Suche nach Glück. Diese „merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ – haben Sie sie in Ihrem Leben gesucht und gefunden?
Ja. Ja. Aber das ist eigentlich … Wissen Sie, der Titel stammt von einem alten neapolitanischen Theaterstück. Und heißt dort „Pulcinella oder die Suche nach dem Glück in den Straßen von Neapel“. Und es gab da eine Inszenierung vor vielen Jahren, als ich noch dort lebte, also Anfang der 70er Jahre oder so, von Eduardo de Filippo, der ein wunderbarer Stückeschreiber ist und sich immer auch bemüht hat, alte Theaterwerke neu zu lesen, neu zu interpretieren. Das hat mich inspiriert.
Pulcinella ist eine Persönlichkeit die den Bürgern von Neapel und Umgebung sehr verständlich ist, verletzlich, aggressiv, komisch, tragikomisch, sie bietet sehr viele Nuancen. Und ich habe versucht, mit meiner Musik in dieser Gisela-Oper einen modernen Pulcinella zu zeigen
Wer ist denn diese Gisela?
Det weeß ick nich … Klingt altmodisch, der Name, oder? Gisela war musikalisch gewählt. Das ist ein Name, der sich gut komponieren lässt. Es gibt ja auch „Giselle“. Aber ein moderner Name, das ist er nicht. Das wird er erst wieder nach dem Stück werden. Wir konnten uns jedenfalls nicht vorstellen, eine Vanessa, Sabrina oder sowas auf die Bühne zu bringen. Oder Ruby, weil das in Italien gerade in aller Munde ist. Das ist die neue Minderjährige, mit der Berlusconi angeblich schläft. Der schläft ja jetzt wahrscheinlich nur noch mit Minderjährigen, wenn überhaupt.
Also, die Gisela in unserm Stück ist aus vielen Mädchen der gleichen Altersstufe und in etwa auch der gleichen Klasse zusammengesetzt. Ich kenne mehrere Mädchen, die was von dieser Gisela haben. Uns alle, uns Nordmenschen, fasziniert der Süden, das ist immer so gewesen und wird auch weiterhin so sein. Und unsere Gisela hier verliebt sich in einen Menschen, der dem Charakter der Menschen im Süden entspricht.
Die Figur der Gisela erinnert auch an Ihre Mutter, ebenso an Ingeborg Bachmann …?
Ja, es gibt Erinnerungen, schon. Aber es gibt ja auch Schluckebier!
Wie viel Hans Werner Henze steckt in dieser Figur? Sie haben sich ja auch in den Süden verliebt …
Verliebt? Im Süden hab ich mich oft verliebt, aber in den Süden in einer Solchheit … Vielleicht insofern, als mir vieles – was jeden am Süden fasziniert – sehr wichtig geworden ist, das Licht, das Klima, die Meeresnähe.
Diese Oper ist ebenso heutig wie sie ewige Menschheitsfragen bedient, eben die Suche nach dem Glück. Sie ist aber auch voll von der Italien-Sehnsucht der Deutschen. Ist dieser Traum überhaupt lebbar oder sollte er Traum bleiben?
Nein, nein, ich fühle mich dort sehr zu Hause. Ich bin länger dort als ich je woanders gewesen bin, seit 57 Jahren; zwei Drittel meines Lebens habe ich in Italien verbracht. Ich denke also schon, dass das lebbar ist. Sie erinnern mich da an eine Episode, die der französische Maler Corot erlebt hat. Der lebte für drei Jahre in der Gegend von Rom. Und er hat sich dann nach dem dritten Jahr nicht in der Lage gefühlt, nach Paris zurückzukehren. Wegen des Lichts. Er brauchte dieses Licht für seine Malerei.
Ich bin nur in einem anderen Metier tätig. Aber das kann man so doch fast auch auf die Geräusche übertragen, die dort im Süden vorherrschen. Von den Zikaden angefangen bis zu den Wiedehopfen, alle möglichen anderen Vögel, die Nebelkrähen, die Stare, die jetzt grad auf der Durchreise sind von Norden nach Süden, der Menschenlärm, der eine andere Musik ist als hier. Das ist im Prinzip übertragbar.
Wenn Sie nun in dieser modernen Oper die Commedia dell’Arte zitieren, ist das nicht auch eine Flucht aus der Moderne in die Historie? Die klingende Historie?
Es sind einige tolle Typen in der Commedia dell’Arten, nicht? Sogar Goldoni, der nicht mehr dazugehört, lässt sich am besten inszenieren, indem man die Prototypen der Commedia dell’Arte auf das Schauspiel von heute transponiert. Theater, wie wir es heute kennen als einen Ort, wo menschliche Probleme, menschliche Wahrheiten abgehandelt werden.
Woran arbeiten Sie nach „Gisela!“?
(Lacht) An einer großen Pause.