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„Drei Dinge prägen ein Orchester: Stadt, Konzertsaal, Dirigent.“

Charles Dutoit, Ihre Kollegen wie Blomstedt, Haitink, Masur, Abbado, Boulez oder Harnoncourt wurden alle in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren. Sie selbst sind nur ein klein bisschen jünger. Was hält Dirigenten eigentlich davon ab, mit – sagen wir mal 75 Jahren – den Stab hinzulegen und seine Meriten vergnügt bei einem Glas Rotwein auf der Finca zu genießen?

"Rente? Da kann ich nur lachen…" (Foto: Chris Lee)

Nicht jeder interessiert sich für die Pensionierung, wissen Sie. Schließlich lernt man als Dirigent jeden Tag dazu, das ist so spannend, da kann man nicht einfach aufhören. Rente mit 65 oder 67? Da kann ich nur lachen. Als Dirigent reift man langsam, und erst mit einem gewissen Alter kann man die Früchte seiner Erfahrung pflücken. Und heute leben wir so viel länger, sollen wir da herumsitzen und unseren Hobbies nachgehen? Nein, nein. Obwohl ich zugeben muss: Karrieren verlaufen heute so unglaublich viel schneller als früher. Gucken Sie mal die ganzen jungen Dirigenten an, die jetzt ans Pult stürmen. Denen müssen wir sicherlich bald mal Platz machen.

Am Pult des Philadelphia Orchestra debütierten Sie 1980. Wie verändert sich der Umgang mit einem Orchester über so eine lange Zeit?

Ich kann mich noch erinnern, mein Debüt war am französischen Nationalfeiertag… Über die Jahre hat sich eine ganz innige Beziehung hergestellt. Die großen Orchester wurden früher von einzelnen Musikdirektoren wesentlich geprägt. Stokowski leitete das Philadelphia ab 1912, und dann leitete es Eugene Ormandy über vierzig Jahre lang! Dasselbe mit Willem Mengelberg, der das Concergebouw fünfzig Jahre leitete. Oder denken Sie an Furtwängler und Karajan bei den Berlinern. Aber die Zeiten haben sich leider geändert. Es ist schwierig geworden, die Persönlichkeit eines Orchesters langfristig zu entwickeln. Eine internationale Aufnahmeindustrie erfordert einen "internationalen Sound". Sehr schade.

Ein interessanter Anachronismus sind da vielleicht ostdeutsche Orchester. Bis zur Wende rekrutierten sie ja quasi ausschließlich Schüler von Orchestermitgliedern, was sicherlich dazu beitrug, den charakteristischen Klang eines Gewandhausorchesters oder einer Dresdner Staatskapelle zu kultivieren.

Stimmt! Ähnlich funktionierte das übrigens auch beim Philadelphia Orchestra. Viele Schüler kamen direkt vom Curtis Institute und wurden von den ersten Pulten des Orchesters unterrichtet. Heute dagegen haben wir in Amerika eine enorme Schwemme von Musikern aus Asien. Sie sind fantastische Instrumentalisten, und technisch kann ihnen niemand das Wasser reichen. Von ihrem Empfinden dagegen… wie soll ich das ausdrücken?… sind sie total nackt. Die Rolle eines Orchesters und vor allem des Dirigenten ist es dann, sie in das traditionelle Klangempfinden einzuführen, sie einzubinden. Überhaupt, ein Orchester prägen aus meiner Sicht drei Dinge: das kulturelle Klima der Stadt, der Konzertsaal, und der Dirigent.

Was macht den Klang des Philadelphia Orchestra heute aus?

Man sagt, dass es einen sehr reichen, dichten Streicherklang hat. Mein Ziel ist es, diese Klangtradition zu erhalten. Ich hörte das Orchester das erste Mal in den fünfziger Jahren, das war in der Schweiz. Die Balance der Stimmen war phänomenal, und das versuche ich zu pflegen. Inzwischen habe ich diesen Klang richtig im Magen, ich muss dem Orchester auch nicht mehr viel in dieser Richtung signalisieren. Ich komme auf die Bühne, wende mich dem Orchester zu, und mir kommt dieser Sound entgegen. Tja, was wird aus Orchestern wie diesem werden?

Das Philadelphia erregte kürzlich weltweit Aufsehen als erstes großes Orchester, dass Insolvenz anmelden musste. Oder ist das das richtige Wort?

So richtig ist das nicht mein Gebiet. Aber was ich mitbekommen habe: Begriffe wie Insolvenz oder Bankrott haben in Amerika eine weichere Auslegung. Niemand wird bei uns vorbeikommen und die Möbel mitnehmen. Offiziell hat die Orchesterleitung im April Gläubigerschutz nach "Chapter 11" des amerikanischen Insolvenzrechts beantragt. Das ist im Prinzip ein Werkzeug, um Verträge neu verhandeln zu können. Ein Richter entscheidet dann, was geschieht. Es rumort, aber nur hinter der Bühne. Für das Orchester ist das keine einfache Zeit.

"Ich komme auf die Bühne, wende mich dem Orchester zu, und mir kommt dieser Sound entgegen." (Foto: Pete Checchia)

Was waren die Ursachen dafür, den Gläubigerschutz in Anspruch nehmen zu müssen?

Es lag an zu knappen Budgets. Amerikanische Orchester werden meist als Stiftungen geführt, sie sind von privaten Geldgebern abhängig, nicht vom Staat, wie etwa in Deutschland. Manchmal habe ich das Gefühl, die ganze Wirtschaftswelt ist dieser Tage völlig auf den Kopf gestellt. Die privaten Geldgeber litten und leiden eben unter der Wirtschaftslage, und so sind nicht nur wir, sondern viele andere Orchester momentan in großen Schwierigkeiten.

Kann man das amerikanische Wirtschaftsrecht denn so einfach auf einen Klangkörper übertragen?

Nicht wirklich. Chrysler ist zwei Mal auf diese Art zu Boden gegangen. Man strukturiert dann irgendetwas um und kommt zurück. Aber in der Musik läuft es nicht so einfach wie im Autobau, Sie können ja nicht einfach ein paar Leute feuern und zurückbuchen, wenn es dem Unternehmen besser geht. Momentan erhalten alle meine Musiker ein Gehalt, auf der Basis der Verträge vom letzten Jahr.

Haben diese Dinge Einfluss auf die künstlerische Qualität des Orchesters gehabt?

Nicht im geringsten. Im Gegenteil, die Musiker wollen zeigen, was sie können und wer sie sind. Sie spielen superb. Etwas besorgt bin ich allerdings, dass wir aufgrund der unsicheren Lage gute Solisten an andere Orchester verlieren könnten. Wir sind da inmitten der Verhandlungen im Moment. Ende des Jahres sollte feststehen, wie es weitergeht.

Ab der nächsten Spielzeit wird Yannick Nézet-Séguin Ihren Posten übernehmen. Aber die Idee mit der Finca war nichts für Sie, habe ich das richtig verstanden?

Also, mein Terminkalender ist bis 2015 erst mal komplett ausgebucht. Mit dem Londoner Royal Philharmonic Orchestra werde ich eine Menge Tourneen absolvieren. Und dann wären da noch die Klangkörper von Boston, New York, Chicago… Sicherlich, ein bisschen kürzertreten werde ich allmählich. Aber so richtig als Rentner fühle ich mich nicht. Ich liebe es zu malen, zu lesen, beschäftige mich mit Politik und Wirtschaftsfragen. Ich liebe es zu reisen – wissen Sie, dass ich bereits in allen 196 Staaten der Erde war? Naja, der Süd-Sudan fehlt mir noch, den gibt es ja erst seit Juli 2011. Und nicht zuletzt wird meine Familie mich etwas öfter sehen.

Freitag, 2. September, 20.00 Uhr
Kulturpalast

The Philadelphia Orchestra
Charles Dutoit, Dirigent
Jean-Yves Thibaudet, Piano

Tickets sind erhältlich auf www.musikfestspiele.com, per E-Mail an besucherservice@musikfestspiele.com, in der Ticketcentrale im Kulturpalast Dresden (Eingang Schlossstraße Tel +49 (0)351 – 486 66 66), sowie an allen weiteren Vorverkaufsstellen.