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Pfauenherz

„Herz Europas“. Mit diesem Slogan knüpft Intendant Jan Vogler an „Neue Welt“, Russlandia“ und „Fünf Elemente“ an, um seine Auf- und Ausbauarbeiten der Dresdner Musikfestspiele fortzusetzen. Das sonst stets streng gehütete Motto war diesmal freilich schon durch die enge Vernetzung mit anderen Musikpartnern durchgesickert. Zu enthüllen war da nur mehr das Foto zum Motto. Auffällig fehlt darauf Voglers Instrument, das erst in der New Yorker U-Bahn, dann im russischen Birkenwäldchen und zuletzt ein klein wenig verschämt in einem knallgrünen Heckenlabyrinth abgebildet war. „Herz Europas“ – ein Pfauenherz?

Quelle: www.musikfestspiele.com

Das prächtige Gefieder des seltenen Hahns mit dem gekrönten Köpfchen soll für kaiserliche Pracht stehen, erklärte Jan Vogler und vermied jegliche Assoziation von Eitelkeit und Gefallsucht. Er wolle mit „Herz Europas“ vielmehr die Wiege der Kulturtraditionen von Wien, Budapest, Prag, von Donau-Monarchie und Habsburgerreich bis hin zur einst so machtvollen Moldau-Enklave verstanden haben. Dank Adelskontrakten und wohl nicht zuletzt auch wegen des Zuflusses von Smetanas vaterländisch instrumentiertem Gewässer gen Elbe sind diese Herzschläge – musikalisch und zumindest im Frühsommer 2012 – auch in Dresden zu spüren. Den klangvollen Auftakt dazu gibt es freilich schon jetzt am ersten September-Wochenende mit den Gastkonzerten des Philadelphia Orchestra unter Charles Dutoit und des Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti. Die hat Vogler mit einigem Verhandlungsgeschick nach Sachsen gelockt; ein sicher nicht ganz billiges Unterfangen, das aber genau zeigt, wohin der in aller Welt als Cellist anerkannte Intendant die Musikfestspiele steuern will.

Die 1978 gegründeten und seitdem jährlich stattfindenden Festspiele gehören in die erste Reihe europäischer Festivals, so Vogler, der beim Pressegespräch nicht an Kritik in Richtung Stadt Dresden und Land Sachsen sparte, die beide für eine Unterfinanzierung dieser Einrichtung stünden. Vergleichbare Klassik-Spektakel bekämen ein Mehrfaches an Subventionen. Gerade jetzt stünden aber die Zeichen günstig, Dresden als einen international anerkannten Festspielort zu etablieren. Nicht zuletzt seien die Rekordeinnahmen aus Kartenverkäufen (2009 rund 600.000 Euro, 2010 etwa 700.000 Euro) ein gutes Indiz für Akzeptanz und Zuspruch.

Vor allem aber – und da ist Jan Vogler ganz Künstler – spreche die Musik ihre eigene Sprache, sorge in Verbindung mit den einzigartigen Veranstaltungsorten in und um Dresden bei einem zunehmend internationalen Publikum für unvergessliche Momente. Seinem Verständnis zufolge habe gerade das einstige „Herz Europas“ dazu beigetragen, dass heute alle Welt die musikalische Prachtentfaltung dieses „alten Kontinents“ zu schätzen wisse. Für derart Strahlkraft solle der weiße Pfau denn auch stehen. Allem Gefieder und den Gedanken an Kaiserwalzer zum Trotz wurde just zum Pressegespräch am 1. September aber auch daran erinnert, dass vom europäischen Herzen nicht nur Schönklang ausgegangen ist. Seit 1939 steht dieses Datum für Gewalt und Schrecken; als Weltfriedenstag sollte es fortwährende Mahnung sein und könne nun für das menschlich Verbindende stehen, was nicht zuletzt mit der Sprache der Musik ausdrückbar sei.

"Ich habe genug": Das Orchestra of the Age of Enlightenment gastiert am 24. Mai in der Frauenkirche (Foto: Eric Richmond Harrison)

Dort, wo einst Blaublut und Inzest ein kontinentales Völkergemisch beherrscht haben, leben heute die vielfältigsten Traditionen aus böhmischer, österreichischer und ungarischer Musik fort. Diese Region als Schmelztiegel von Einflüssen zu begreifen, die in ihr gewachsenen Ensembles und Interpretationsstile zum Klingen zu bringen, das sollte unter dem Motto „Herz Europas“ in Dresden durchaus gelingen. Allein mit Wiener Philharmonikern, Wiener Sängerknaben, Tschechischer Philharmonie, Mahler Chamber Orchestra sowie Wiener Akademie und Camerata Salzburg ist eindrucksvoll umrissen, aus welch reichem Quell diese Musiklandschaft gespeist wird. Nicht zufällig kommt dem Genius Mozart ein besonderer Part im Festspielprogramm zu.

Aber ausdrücklich sollen auch die düstersten Schattenseiten beleuchtet werden, die es in der unter anderem ja aus jüdischen Traditionen geprägten Gemengelage Zentraleuropas gegeben hat, die vor allem im 20. Jahrhundert einmal mehr mit höchst unchristlicher Kulturbarbarei aus Nazi-Deutschland konfrontiert worden ist. So wagen die Musikfestspiele erstmals einen Ausflug ins südöstlich von Dresden gelegene Terezin und geben im einstigen „Vorzeigelager Theresienstadt“ ein Konzert mit dem Pavel Haas Quartett, um an verfemte und ermordete Komponisten zu erinnern. Allein dafür gebührt den Machern großer Respekt.

Hochachtung allerdings ebenfalls dem in eine kulturvolle Zukunft gerichteten Engagement, das auch unter sozialpolitischem Aspekt unschätzbar wichtig ist. Neben dem Blick auf junges Publikum, das mit maßgeschneiderten Projekten interessiert werden soll, zählt die künstlerische Nachwuchsarbeit zu den Kerninhalten. In diesem Zusammenhang hat 2012 das Dresdner Festspielorchester Premiere, eine Neugründung mit namhaften europäischen Barockmusikern um den italienischen Konzertmeister Giuliano Carmignola. Das erinnert stark an den Ursprung der Sächsischen Staatskapelle, die als Hofkapelle ebenfalls unter italienischem Einfluss begann und heute zu den führenden Orchestern der Welt zählt. Jan Vogler will mit diesem Novum die historische Aufführungspraxis stärken und legt die musikalische Leitung des neuen Ensembles in die die kundigen Hände von Ivor Bolton.

Angekündigt wird darüber hinaus das Curtis Symphony Orchestra als „Orchestra in Residence“, um sowohl – gemeinsam mit Jan Vogler am Cello und dem Geiger Ray Chen – das Eröffnungskonzert in der Frauenkirche zu gestalten als auch ein viereinhalbstündiges Kammermusik-Marathon in der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen zu zelebrieren und nicht zuletzt mit Schülerinnen und Schülern aus Dresden eine Neuauflage von „Let’s Dance!“ zu starten. Erstmals spielt das Musikfest in der Dresdner Messe auf, wo mehr als fünf Stunden lang en suite eine klingende Donau-Tour als musikalischer Ausflug für die ganze Familie unternommen werden soll. Debüts gibt es zudem im Eventwerk mit dem urgewaltigen Schlagwerker Martin Grubinger und in der Fertigungsstrecke (quasi dem produktionstechnischen Herzen) der VW-Manufaktur mit der moldawischen Musikerfamilie Kopatchinsky, die das „Herz Europas“ bis weit in den Südosten des Kontinents schlagen lassen werden.

Bitte anschnallen: Patricia Kopatchinskaja [Violine], Emilia Kopatchinskaja [Violine], Jacqueline Kopacinski [Violine, Viola], Viktor Kopatchinsky [Cymbal], Mihaela Ursuleasa [Klavier], Martin Gjakonovsky [Kontrabass] kommen in die Gläserne Manufaktur (Foto: M. Borggreve)

Donauaufwärts ist schon immer viel musikantisches Brauchtum in die klassische und spätklassische Musik dieses Kulturraums geflossen, dieser Tatsache trägt eine gesonderte Reihe namens „Donauklänge“ Rechnung, die erstaunliche Wagnisse beinhaltet. Walzerseligkeit oder gar k.u.k.-blöde Folklore müssen da jedenfalls nicht befürchtet werden. Pfauenfeder für Pfauenfeder scheint im Festspieljahrgang 2012 also eine ganze Menge an reizvoller Schönheit nach Dresden zu kommen.

Enthüllungen sehen anders aus. Was hier betrieben wird, ist die stringente Entwicklung eines Festivals, das mit vergleichsweise schmalem Etat in die erste Riege der europäischen Festspiellandschaft gelenkt werden soll. Ganz offensichtlich ist dies eine – europäische – Herzensangelegenheit. 

Dresdner Musikfestspiele 2012: 15. Mai bis 3. Juni