Am Sonntag hielt Gohrisch den Atem an. Kurt Sanderling, Freund Dmitri Schostakowitschs und Schirmherr des jungen Festivals, gestorben… Im Mai hatte man ihm noch den diesjährigen Festivalpreis überreicht. Bescheiden hatte Sanderling damals abgewinkt; er habe nur das getan, was ihm am Herzen lag. Wo so plötzlich die Worte fehlten, war es am Ende die Musik, die nach einer Schweigeminute das Gedenken an den großen Dirigenten noch einmal beschwor. In der fünfzehnten und letzten Sinfonie Schostakowitschs, die in der Kammermusikfassung von Viktor Derevianko die dreitägigen "Internationalen Schostakowitsch Tage" abrundete, legt das auskomponierte Abschnurren einer Uhr biografische Deutungen vielerart nahe. Musikalisch war das ein würdiger, ein denkwürdiger Schlusspunkt des zweiten Jahrgangs, der in einem 600 Zuhörer fassenden Zelt stattfand.
Diese Zeltlösung – optimal war sie nicht, akustisch ergaben sich doch Einschränkungen im Vergleich zur Scheune, in der das Festival letztes Jahr stattfand. Der künstlerische Leiter des Festivals, Tobias Niederschlag, liebäugelt schon mit einem Neubau, der übers Jahr als Mehrzwecksaal für Veranstaltungen der Region dienen könnte. "Aber – das ist noch Zukunftsmusik…" Einstweilen bemühe man sich um pragmatische Übergangslösungen.
Es ist nach wie vor das Anekdotische, das das Sprechen über Schostakowitsch und seine Musik bestimmt. Bei geführten Spaziergängen erfährt man beispielsweise, welche Speisen die Kellnerinnen Schostakowitsch während seiner Kur-Aufenthalte 1960 und 1972 servierten. Ein Vortrag der Capell-Compositrice Lera Auerbach gipfelte in der Beschwörung des traurigen Hundeblicks des Meisters. Für eine Lesung hatte Christian Friedel Briefe des russischen Komponisten offensichtlich weniger thematisch denn nach klingenden Stichworten (‚Gohrisch‘, ‚Sanderling‘) durchforstet und betonte fast sämtliche Namen falsch. Hier steckt noch Potential für das Musikfest, um ein anerkannter Treffpunkt europäischer (auch osteuropäischer!) Schostakowitsch-Kenner zu werden, den Austausch über seine Musik zu fördern und von ideologischen Aufladungen zu befreien. Faszinierend wäre, die »Memoiren«, deren bewegende filmische Verarbeitung durch Tony Palmer dieses Jahr ebenfalls auf dem Festivalzettel stand, einmal nach musikalischen Anknüpfungspunkten zu durchforsten – Stoff für Jahrzehnte wartet da noch.
Auch die klingend dargebrachten Werke Lera Auerbachs – ein Streichquartett, zwei Violinsonaten – stießen auf gemischte Gefühle. Die Komponistin trat nebenher als Poetin und Bildende Künstlerin in Erscheinung; "Ich kenne den Preis der Stille", hauchte Auerbach bei einem mystisch anmutenden Auftritt im Festivalzelt, den Schostakowitsch trocken als "Rezitieren mit Betonung" bezeichnet hätte (»Memoiren«, S. 262). In ihren Worten wie ihrer Musik haben wir es mit überbordenden, teils originellen, oft aber epigonal gefärbten Gedanken zu tun. Viele weitere Programmpunkte waren dagegen von einer bestrickenden Klarheit und Aussagekraft. Die Violasonate C-Dur etwa interpretierte Kapellbratscher Sebastian Herberg berückend, wenn auch etwas zu zivilisiert. Der Kammersinfonie op. 49a fehlte es unter der Leitung von Michail Jurowski vielleicht nur an einem Quentchen klanglicher und dynamischer Zuspitzung, um eindringlich in Erinnerung zu bleiben.
Das Achte Streichquartett ist das einzige Werk, das Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion komponierte – in Gohrisch eben. Im Festivalablauf ist es damit als Schlüsselwerk quasi "gesetzt". Mit überbordendem Jubel quittierte das Publikum die diesjährige Interpretation durch das Schostakowitsch Festival Quartett, bestehend aus Musikern der Staatskapelle und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Auch der Pianist Igor Levit überzeugte erneut mit seinem unprätentiösen, klug entschlackten Spiel, sowohl in kammermusikalischen wie orchestralen Besetzungen und – ein weiterer fantastischer Höhepunkt – solistisch, mit den 24 Präludien op. 34. Die Lust auf den dritten Gohrischer Jahrgang ist damit schon jetzt unbändig!
Eine Textfassung des Artikels ist am 20. September 2011 in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.