Noch immer verursacht ein Besuch der Spielstätte Semper 2 bei der Mehrzahl der Besucher eine gewisse Orientierungslosigkeit. Wo muss ich lang? Diese Frage ist letztlich Symptom für die Grundausrichtung und -wirkung dieses Ortes, bei dem sich die Routinen eines normalen Opernabends niemals so recht einstellen wollen. Was als eine gewisse Befreiung empfunden werden kann, ist aber eben immer auch Verunsicherung – und zwar keineswegs nur beim älteren Publikum. Die Premiere von Karl Amadeus Hartmanns „Simplicius Simplicissimus“ hatte einiges zu dieser wohltuenden Aura der Überraschung und Verunsicherung beizutragen.
Das Publikum ist angehalten, auf einem der 120 hölzernen Hocker Platz zu nehmen, die in der Mitte des Bühnenraumes aufgestellt sind, um den herum an allen vier Wänden Bühnenelemente stehen. Wo muss ich lang? Nun heißt es: Wo ist vorn? Auch der Ort des Orchesters liefert da wenig Anhaltspunkte.
Und wo befinden wir uns mit diesem Werk – dem Simplicius Simplicissimus? Ausgangsort ist der epochemachende Schelmenroman „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, den Grimmelshausen als faszinierende und gleichwohl verstörende Reflexion des ersten großen europäischen Krieges 1668 verfasste. Karl Amadeus Hartmann befragt den Roman dann daraufhin, was er zur Deutung der Gegenwart der 1930er Jahre beitragen kann. Aus heutiger Sicht möchte man dieser Oper geradezu prophetische Qualitäten zusprechen. Oder wie anders wollte man es bewerten, dass Karl Amadeus Hartmann 1934/35 unter Rückgriff auf den Roman von Grimmelshausen ein Szenario der Kriegsgräuel, der Macht und Ohnmacht entwirft, dass nur wenig später Wirklichkeit werden würde? Vielleicht hat ihm aber auch seine Sozialisation in einem dezidiert linken, kommunistischen Milieu früher als anderen die Augen geöffnet. Und mehr noch: Ab den 30er Jahren kommt eine – zunächst künstlerische – Deutung der Gegenwart als einem neuen Dreißigjährigen Krieg auf. Ernst Kreneks „Kantate von der Vergänglichkeit des Irdischen“ von 1932 ist da ein frühes Beispiel. Später werden dann sowohl Charles de Gaulle als auch Josef Stalin vom ’neuen dreißigjährigen Krieg seit 1914′ sprechen.
Wer bin ich?
Die Kantate „Friede anno 48“, die Karl Amadeus Hartmann 1948 auf Texte von Andreas Gryphius aus dem Jahr 1648 schrieb, wirkt dann wie ein traurige Bestätigung und ein Nachspiel zu seiner Simplicissiumus-Oper. Ein Hauptmann (Matthias Henneberg) in einer französischen Uniform des Ersten Weltkrieges und eine Tänzerin (hervorragend: Lina Lindheimer) als Personifizerung der androgynen Welt der Weimarer Republik bereichern die Perspektiven und Deutungen. Eine letzte, aktuelle Ebene fügt das Programmheft hinzu: Ein Zitat des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu schärft das Bewusstsein für die Massaker-Realität der Gegenwart. Es gehört zu den Stärken der Dresdner Inszenierung, diese verschiedensten historischen Schichten übereinandergelegt zu haben, mit dem Effekt, dass die Summe dieser Zeitebenen Zeitlosigkeit und beklemmende Gültigkeit ist.
Die Aufführung wird von einem jungen Projektorchester getragen, das die nicht eben einfache Partitur des Werkes mit einer erstaunlichen Qualität bewältigt. Stellvertretend für die 15 Musiker seien die 1. Violine und die Fagottistin für ihr exzellentes Spiel gelobt. Auch die rhythmische Energie, die von den Instrumentalisten ausgeht, ist bezwingend und geradezu körperlich miterlebbar. Die instrumentalen Zwischenspiele werden unter der inspirierenden Leitung des jungen Dirigenten Erik Nielsen zu beklemmenden, ergreifenden und mitreißenden Momenten. Die Mischung aus modernen Musikstilen, Zitaten romantischer Komponisten und barock-bachischen Anklängen ist bei Nielsen bestens aufgehoben.
Wohl dem, der solchen Nachwuchs hat
Die herausragende Leistung des Abends vollbringt aber Valda Wilson in der Titelrolle des Simplicius Simplicissimus. Mühelos wechselt sie von einer kindlich-lyrischen Tongebung zu kraftvollem Gesang. Auch schauspielerisch weiß sie zu überzeugen. Da kann man dann auch über den englischen Akzent hinweghören, mit dem der deutschsprachige Text eingefärbt ist. Wohl dem, der in seinem Jungen Ensemble solche Nachwuchskräfte hat. Die übrigen Sänger dagegen erscheinen – der Akustik des großen Semperopernsaales entkleidet – doch nur selten überzeugend. Wo Valda Wilson stets präsent bleibt, gehen sie zuweilen im Orchesterklang unter.
Die Kreateure dieses insgesamt überzeugenden Opernabends (Inszenierung: Manfred Weiß, Bühnenbild & Kostüme: Timo Dentler, Okarina Peter) haben das mitunter martialische Sujet des Werkes in eine sehr fragile Theatersituation gekleidet, durch die jede Verletzung umso schmerzhafter, jede Geste der Macht umso bezwingender wirkt. Diese Situation hat aber auch ihre Tücken. Diese Inszenierung muss dann aber damit umgehen, dass bei einer dermaßen erzeugten Nähe letztlich jede kleine Geste, jedes Wort und jede noch so scheinbar unbemerkte Sorglosigkeit der Akteure wie im Brennglas vergrößert scheint. Das hörbare Flüstern zweier Musiker während der Aufführung wird dann leider zu einer wahrnehmbaren Größe. Oder der plötzliche Einsatz des Sprechchores aus dem Publikum heraus verliert eben einen gut Teil seiner Wirkung, wenn es vorher nicht gelingt, den Anschein eines normalen Besuchers zu wahren.
Aber letztlich sind das doch nur kleine Randphänome einer Premiere, die sowohl musikalisch wie inszenatorisch überzeugt. Und die das Publikum, derart im Zentrum des Geschehens eingepfercht, am Ende mit der beklemmenden Frage zurück lässt: Wer bin ich eigentlich in diesem Stück?
Weitere Aufführungen: 24., 25., 27., 30. Oktober; 1., 3., 8., 10. November