"Kurios war nur, dass vom Löwen gar nichts Undeutliches, Verschwebtes, Löwen- und Luftatomvermischtes ausging; […] es blitzten keine löwenkopfartigen Spiegelneuronen und bewimmelten das kristalline Geflirr einer Halluzination. Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb."
So liest man in dem neuen Roman „Blumenberg“ von Sibylle Lewitscharoff und könnte es angesichts der Premiere von Händels „Alcina“ in der Dresdner Semperoper auch als eine Art philosophisches Vorwort begreifen, das uns vor Augen stellt, welch große Wirkung ein plötzlich auftauchender Löwe haben kann. Wenn ein Löwe da ist, läuft der Interpretations- und Assoziationsgenerator heiß und nichts ist mehr, wie vor dessen erscheinen. Auch in Dresden war der Löwe da, in der Doppelgestalt eines ausgestopften Präparates und eines vertierten Mannes, der wie so viele vor ihm, in die schlanken Fänge Alcinas geraten war. Der machtvolle, menschenfressende nemëische Löwe auf der einen, der domestizierte Tier-Mensch auf der anderen Seite – und dazwischen Händel, mit seiner 1735 geschrieben Oper „Alcina“, die sicherlich zu den tiefgründigsten und raffiniertesten seiner Werke gehört.
Und drumherum eine – man muss es so sagen – einfach-geniale Bühne (Bühnenbild: Ben Baur, Kostüme: Karin Jud) und eine in alle Takte des Werkes hinein überzeugend-durchdachte Inszenierung von Jan Philipp Gloger. Bewegliche Wände greifen die Doppelgestalt des Löwen auf: Alcina, die Zauberin auf dem Höhepunkt ihrer Macht, kann Berge (oder eben Wände) versetzen. Gleichzeitig scheint alles ins Wanken zu geraten, nichts ist sicher und überall tun sich verborgene Räume auf. Sigmund Freud hätte seine Freude an einer solchen Übersetzung der menschlichen Psyche ins Bühnentechnische gehabt. Die unergründlichen Seelenterritorien aller Figuren von Händels Oper werden so auf faszinierende Weise einsehbar.
Wenn die beweglichen Wände sich dann plötzlich zu einem geschlossener Raum formen, in dem Alcina auf sich selbst zurückgeworfen wird, ist allein die Tatsache, dass da drei unumstößliche Wände sind, wo vorher Bewegung und Durchlässigkeit herrschte, ein so starker Moment, dass darin die gesamte überzeugende Regie-Bühnenbild-Idee ihren Höhepunkt erfährt. Ein wunderbarer Regieeinfall ist es auch, den Sängerinnen Doppelgänger oder gar doppelte Doppelgänger beizustellen, die mal verstärkend, zumeist aber kontrastierend das Andere der Figur darstellen. Auch hier wird der komponierende Psychologe Händel mit starken Bildern in Szene gesetzt. Dies ist eine Händel-Inszenierung, die in ihrer Klarheit bei gleichzeitiger Doppelbödigkeit und Mehrdeutigkeit Maßstäbe setzen kann. Und von bleibender Größe ist das Schlussbild einer ins Abseits gestellten Alcina!
Und wie verhalten sich die Sänger, wenn derart der Inszenierungsteppich ausgerollt ist? Amanda Majeski (Alcina), seit dieser Spielzeit neu an der Semperoper, ist eine fantastische Sängerin, die sich in künftigen Inszenierungen noch als Glücksgriff erweisen wird. Mit einer Ausstrahlung zwischen charismatischem Machtmenschen und Zerbrechlichkeit weiß sie ihre farbenreiche und wandlungsfähige Stimme gut einzusetzen. Bis in ein extremes Pianissimo hinein entwickelt sie mit ihrem Gesang eine enorme Suggestivkraft, die unmittelbar berührt. Und die mitunter enormen musikalischen Anforderungen in den Arien löst sie mit Bravour.
Das Problem ist nur, dass ihr Gesang – und hier kommen wir zu einem Grundproblem des Abends – doch relativ weit weg ist vom barocken Musizieren. Das gilt nicht nur für Amanda Majeski in der Titelrolle, sondern ebenso für Nadja Mchantaf als Morgana. Ihr gelingt bestes Entertainment und sie weiß mit ihrer jugendlichen Art und Stimme das Publikum zu begeistern, aber sängerisch sind wir mit ihr irgendwo zwischen Mozart und späteren Operngrößen angelangt. Zu massiv ist der stimmliche Einsatz bei ihr wie bei den anderen Protagonisten Christa Mayer (Bradamante), Barbara Senator (Ruggiero), Elena Gorshunova (Oberto) Simeon Esper (Oronte) und Markus Butter (Melisso). Fallen die letztgenannten doch stimmlich etwas zu deutlich ab, so haben wir es ja mit überzeugenden Leistungen zu tun – nur befinden wir uns an diesem Abend eben in einer Barockoper und nicht im 19. Jahrhundert. Koloraturen sind wenig klar und werden mitunter von übermäßigem Tremolo regelrecht verzerrt; fast alle schnelleren Tempi wirken – den eben schwerfälligen Stimmen geschuldet – sehr zäh und verschleppt.
Rainer Mühlbach und der Sächsischen Staatskapelle gelingt es nicht, dies aufzufangen. Eher unterstützen sie noch das Breitwandmusizieren, wo manchmal eine spitze Feder ein besseres Bild zeichnen würde. Begreift man Barock als eine produktive Spannung zwischen Maß/Präzision und Überschreitung, so war dieser Opernabend in beide Richtungen nicht ausgereizt. Es ist schon erstaunlich, wie erfolgreich sich die Sächsische Staatskapelle immer wieder ihrem eigenen barocken Gründungsmythos verweigert. Dresdens barocke Oper und Hofkapelle waren im 18. Jahrhundert der Inbegriff des zeitgemäßen Musizierens überhaupt. Vorgänger Thielemanns wie Johann Adolf Hasse waren Wegweiser und Gradmesser für das musikalische Europa. Davon, ein interpretatorisches Leitsystem zu sein, war die Dresdner „Alcina“ doch ein ganzes Stück entfernt. Es geht nicht um ein Dogma historischer Aufführungspraxis, sondern um jene Vitalität, Spielfreude und mitreißende rhythmische Präzision, die Händel eben nicht nur als Psychologen, sondern auch als vollendeten Entertainer ausweisen, der vor allem Kontraste kreiert, die seine Opern zu emotionalen Achterbahnfahrten werden lässt. Wie das aussehen könnte, wurde ausgerechnet dann in der Semperoper erlebbar, wenn die historischen Instrumente Viola da Gamba und Theorbe solo zum Einsatz kamen. Nicht nur konnte man staunen, wie gut diese Instrumente den Raum füllen, sondern in diesen Takten hielt das Publikum spürbar den Atem an und eine enorme Spannung breitete sich aus. Hier kamen sich musikalische Interpretation und Inszenierung am nächsten.
So gelingt doch insgesamt ein bewegender Abend, dessen Fragen nach dem Wie-leben-wollen und -können, nach Ego, Alter und Alter ego mit einer Dringlichkeit vorgetragen wurden, die das Premierenpublikum nicht unberührt zurückließ.