Nackte Frauen, nackte Männer, verwackelte Handyvideos, spritzendes Blut, trashige Kostüme. Schauspieler, die sich selber filmten und das Publikum in die Handlung einbezogen: die deutsche Erstaufführung der Fantasy-Oper "Swanhunter" von Jonathan Dove auf der Hinterbühne der Chemnitzer Oper hatte wahrlich genug Potential, erklärte Regietheatermuffel in den rotglühenden Wahnsinn zu treiben. Wie erklärt es sich denn also, dass graubärtige Anzugträger sich am Samstag Abend schüchtern lächelnd als Statisten hergaben; dass ein Mädchen aus Reihe fünf auf die Bühne sprang, mal eben den Haupthelden wiederbelebte, sich in Trance tanzte und dann wieder auf seinen Platz verschwand? Dass die Zuschauer kichernd Papier in Fetzen rissen und die Arme inbrünstig schwenkten, um die heilige "Mutter des Waldes" gnädig zu stimmen?
Weil, und das ist das kleine, feine Geheimnis des Regisseurs und Ausstatters Jürgen R. Weber, all diese Dinge so saugend in das kleine Operchen passten wie Lemminkainens Finnenfaust auf das lawede Auge des schaurigen Teufelselchs. Die Kammeroper hat zwar eine nordisch-wuchtige Handlung zur Grundlage, kommt aber dabei völlig ohne vordergründiges Hojotoho aus. Im Gegenteil, sie lädt dazu ein, das ganze selbstgefällige Heldengedöns der Opernwelt in Pulp-Fiction-Manier gemeinsam mal ordentlich auf die Schippe zu nehmen.
"Die Story", wie es im Programmheft salopp heißt, im Schnelldurchlauf erzählt: der junge Lemminkainen sucht eine Frau, und da die Gewächse des Nordens die schönsten sein sollen, reist er stracks dorthin. Er streckt unterwegs drei fiese Söhne der schönen Louhi nieder, verschont den vierten, besiegt auf Louhis Geheiß erst Teufelselch, dann Teufelspferd und wird schließlich auf der Jagd nach dem Todesschwan von eben jenem vierten Sohn hinterrücks gemeuchelt und zerstückelt (Ein echtes Glanzstück: die Arie "hack, brech, werf"). Glücklicherweise erfährt das seine Mamá auf drahtlos-mystischem Wege. Sie reist an, harkt seine Überreste aus dem Todesfluss und näht die Schinkenstücke wieder zusammen. Es folgt – wie gesagt auch dank des Publikums – ein Happy End…
Die Musik Jonathan Doves ist leitmotivisch konzipiert. Neun agile, wandlungsfähige Sänger übernehmen fünfzehn Rollen plus Chor. Violine, Akkordeon, Harfe, Horn, Kontrabass und Schlagwerk verbünden sich dazu zum Dirigat von Domonkos Héja in reizvollen, gut wiedererkennbaren Klang-Kombinationen; Videozuspiele (Devon Elise Atkins) sorgen dafür, dass das Publikum stets up-to-date ist, was Schlagkraft und Seelenheil des Protagonisten angeht. Diese Inszenierung, wiewohl nicht völlig jugendfrei und deswegen mit einer Altersempfehlung ab 12 Jahren, hat das Zeug zum Immer-und-immer-wieder-Kultstück.
Nächste Vorstellungen: 13., 14., 23., 28. Dezember 2011, 8., 9., 21. Januar 2012. Kartentelefon 0371 – 4000430
Eine Textfassung des Artikels ist am 6. Dezember in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.