Während ich schreibe, bewegen sich zwei Musikheroen des 20. Jahrhunderts aus diametral entgegengesetzten Richtungen auf mich zu: aus Richtung seiner Geburtsstadt Wroclaw (wo ich am Sonntag Zygmunt Krauzes neue Oper »Die Falle« sehen werde – ein Bericht folgt) tönt schwerblütig Hans Pischners (*1914) altehrwürdige Interpretation der Goldberg-Variationen aus dem Jahr 1970. Und von Westen, aus Richtung Amsterdam, klingt in alter Stimmung Gustav Leonhardts durchpulste Einspielung desselben Werks. Nicht durch reines Tempo verleiht er den Variationen Esprit, sondern durch eine abwechslungsreiche Artikulation und eine rhetorische Geschicktheit, die manche Melodie wie von menschlicher Stimme gesungen oder gesummt wirken lassen. Gerhard R. Koch hat einen Nachruf verfasst, der heute in der FAZ erschien.
Genau vierzig Jahre her ist morgen, am 19. Januar, der tragische Tod von Michael Rabin, Amerikas Geigengenie. Glaubt man den kürzlich neu aufgelegten Recherchen von Anthony Feinstein, so war der fünfunddreißigjährige Stargeiger damals in der Küche seiner Wohnung gerade damit beschäftigt, eine Dose Thunfisch zu öffnen, als seine Freundin June LeBell ihn anrief. Unter dem Einfluss starker Schlafmittel stehend, wankte, stürzte Rabin ins Wohnzimmer, wo er ausrutschte und mit dem Kopf gegen einen Stuhl krachte. Wer weiß, vielleicht hätte sonst er, den Ivan Galamian einst als seinen besten Schüler bezeichnete, dessen Nachfolge angetreten, hätte Schüler wie Perlman, Midori oder Nigel Kennedy unter seine Fittiche genommen… Wer in Rabins Universum eintauchen möchte, dem sei diese 6CD-Box zum Preis von 16 Euro empfohlen.
Eine weitere Rückschau für heute, wieder in Buchform. Endlich habe Zeit gefunden, in Ludwig Güttlers neue Biografie mit dem Titel "Mit Musik Berge versetzen" hineinzulesen. Alexandra Gerlach hat eine hymnische Epiphanie auf den Trompeter mit der (ehemals) "üppigen dunklen Löwenmähne" verfasst. Das Buch beginnt im sentimentalen Karl-May-Stil (Güttler stammt bekanntlich aus dem erzgebirgischen Sosa, aus einer "armen Gegend mit rauem Klima und dürftigen Böden, die nur geringe Ernten zulassen", "im Winter bitterkalt und kahl"). Den Anschuldigungen, Güttler sei "IM" gewesen, ist das nüchternere Kapitel »Die Akte« gewidmet, in dem sich Gerlach zurückhält und mehr oder weniger nur die sattsam bekannten Fakten aufzählt: dass eine Täter-Akte existiert, die die Stasi-Unterlagenbehörde als authentisch einstufte; dass Güttler einräumt, Einladungen eines Stasi-Offiziers zu "Gesprächen" Folge geleistet zu haben; dass es neben Treffberichten und Tonbandprotokollen auch handgeschriebene Berichtsprotokolle gibt, deren Schriftbild "Güttlers Handschrift ähnelt", deren Urheberschaft der zweifellos in mancher Hinsicht vergleichsweise privilegierte Künstler jedoch bis heute bestreitet und durch Gutachten zu widerlegen suchte (sie kommen zu keinem eindeutigen Ergebnis). Gerlach: "Der Schatten bleibt und belastet ihn."
Insgesamt ist "Mit Musik Berge versetzen" ein manchmal langatmiges, aber sorgfältig recherchiertes Buch mit nachlässigem Lektorat ("Marktneukirchen"), in dem viele Kollegen Güttlers zu Wort kommen. Beim Durchschmökern fällt auf: Alexandra Gerlach tritt öfter auch in den Hintergrund und überlässt es dem Leser, sich ein eigenes Bild von Güttler zu machen. Keine schlechte Strategie auch, sehr kritische Worte über ihn einfach wortwörtlich von seinen "Wegbegleitern" zu übernehmen. Schlucken musste ich bei Gerlachs Schilderung der Umstände nach dem Unfalltod von Güttlers Duopartner Christoph Kircheis. "Drei Wochen später stehen die nächsten Konzerte im Westen an", Güttler drängt auf die Einhaltung der Verpflichtung und bittet Friedrich, den jüngeren Bruder des Verstorbenen, dessen Platz einzunehmen. Bis heute musizieren die beiden miteinander.