Die Anfrage kam damals zur Unzeit, erinnert sich Hans-Christoph Rademann. Als er letzten Frühling von einem Konzert nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Eine Findungskommission hatte ihn als Nachfolger des Dirigenten Helmuth Rilling vorgeschlagen, der die Leitung der Internationalen Bach-Akademie Stuttgart nach über dreißig Jahren in berufene Hände abgeben wollte. Rademann sah sich in Konflikte gestürzt. Er hatte ja alle Hände voll zu tun; als Leiter zweier renommierter Chöre in Berlin und Dresden, als Professor an der Dresdner Musikhochschule und nicht zuletzt als Intendant eines im Erzgebirge gerade neu etablierten Musikfestivals, dessen gesamte künstlerische Perspektive eng an seine Person geknüpft ist. Immerhin: da man eine so ehrenvolle Aufgabe nicht einfach so ablehnen kann, fuhr Rademann im Mai nach Stuttgart. Und deutete dort höflich an, dass er sich geehrt fühle, aber keinen Anlass sehe, seine vielfältige Arbeit einzuschränken oder bestehende Verträge vorzeitig zu beenden.
"Das Fazit war: ich sei ein interessanter Kandidat, aber es sei doch sehr ungewiss, ob ich käme," fasst Rademann die damalige Situation zusammen. Trotzdem ließ er sich zu erneuten Gesprächen überreden, sprach schließlich mit Helmuth Rilling selbst. Und redete auch mit seiner Familie. "Als ich das Thema antippte, was das schon sehr problematisch." Schließlich schien der Musiker selbst unverrückbar in Dresden verankert: hier wurde er geboren, hier war er Kruzianer, hier studierte er, hier gründete gerade zwanzigjährig den Dresdner Kammerchor. Hier leitete er in den neunziger Jahren die Dresdner Singakademie, erhielt 1994 den Förderpreis der Stadt, 2008 die Sächsische Verfassungsmedaille "für sein Engagement für Kunst und Kultur in Sachsen".
Leuchtturmfunktion für chancenreiche Projekte
Ehrungen für bereits Geleistetes sind das eine. Eine langfristige künstlerische Perspektive zu haben, das andere. Gefragt, warum er sich diesen harten beruflichen Schnitt denn zumute, ringt Hans-Christoph Rademann mit Formulierungen. Und sagt schließlich: "Mit der Entscheidung, von hier wegzugehen, habe ich mich sehr lange gequält. Nachdem ich für mich beschlossen hatte, als Chefdirigent des RIAS Kammerchores 2015 aufzuhören, stellte ich mir schon die Frage: was kommt danach? Es wäre schön gewesen, in Dresden eine vergleichbare Perspektive entwickeln zu können. Aber realistisch betrachtet ist das undenkbar."
Was der Dirigent in Dresden vermisst, ist das Selbstverständnis einer Kunststadt und ein entsprechendes kulturpolitisches Programm, das Förderer, Sponsoren, großzügige Mäzene anzieht und bindet. Und dass vor allem verlässliche Planungen über Jahre möglich macht. Er hätte sich gewünscht, sagt Rademann – als wäre er gedanklich schon uneinholbar weit weg – dass die Kulturpolitiker chancenreiche Projekte erkannt und ihnen Leuchtturmfunktion gegeben hätten. "Das hätte zur Folge, dass das gesamte Kulturkonzept mehr florieren würde, und die Leute sich nicht am Rand der absoluten Selbstausbeutung verschleißen." Wen er vor allem meint, ist klar, auch wenn das unausgesprochen bleibt: der Dresdner Kammerchor, "sein" Chor, bemühte sich jahrelang um angemessene Förderung durch die Stadt, die er im Namen trägt. Die unterstützte das Chorbüro letztes Jahr mit einer mittleren fünfstelligen Summe, die sich der Kammerchor allerdings mit zwei anderen Ensembles teilen muss. Ein Privatsponsor zahlt dieselbe Summe über sechs Jahre und macht damit ein so ehrgeiziges Projekt wie die laufende Heinrich-Schütz-Gesamteinspielung überhaupt erst möglich.
Rademanns Chor trug Dresdens Ruf in die Welt; Konzertreisen führten die Sänger nach Taiwan, nach Südafrika, Indien, China, Südamerika und Israel, sie traten mit der Staatskapelle, dem Gewandhausorchester oder dem "Orchestra of the Age of Enlightenment" auf. Man heimste Preise auf renommierten Festivals ein; CD-Einspielungen wurden mit Auszeichnungen wie dem Grand Prix du Disc oder dem Preis der deutschen Schallplattenkritik gewürdigt. So erfolgreich agierten sie, erzählt der Chormanager mit leiser Ironie, dass ihm ein weiterer potentieller Sponsor, auf Unterstützung angesprochen, kürzlich gesagt habe: wozu eigentlich noch Zuschüsse, ihr steht doch künstlerisch an der Seite der Staatskapelle, habt es doch längst aus eigener Kraft geschafft? Finanzielle, aber auch ideelle Förderung – das sind die Stichworte auch für Rademann. "Das Entwicklungspotential für den freien Kulturbereich ist in Dresden sehr gering, weil er – ungeachtet aller Qualitätskriterien – von Neiddebatten beherrscht wird. Das hilft niemandem, und erstickt wahre Kreativität." Im Klartext: in Dresden können kreative Kulturkämpfer künstlerisch noch so herausragend sein. An den Zuständen werden sie scheitern. Der prominenteste Abwanderer der jüngeren Zeit ist sicher Marek Janowski: nach schier endlosen Debatten um einen neuen Saal für sein Orchester warf der Philharmonie-Chefdirigent 2003 frustriert das Handtuch und legte sein Amt nieder.
"Der freie Kulturbereich wird von Neiddebatten beherrscht"
Auch wenn Rademanns Herz an Dresden hängt; er werde sich "definitiv von einigen Aufgaben trennen müssen," um den umfangreichen Anforderungen der Stuttgarter überhaupt gerecht werden zu können. Sein Vertragsumfang beim RIAS Kammerchor wird reduziert; seine Dresdner Professur wird er vermutlich ebenfalls zurückgeben. Die Professur für Chordirigieren, die in der deutschen Hochschullandschaft einzigartig ist, was man nicht zuletzt am Erfolg von Rademanns Schülern ablesen kann: am 1. Februar hat Martin Lehmann, früherer künstlerischer Assistent des Dresdner Kammerchors, seine Stelle als neuer Leiter des renommierten Windsbacher Knabenchors, der nach dem Krieg vom Kruzianer und Mauersberger-Schüler Hans Thamm gegründet wurde, angetreten.
Wie lange, fragen sich die ersten Dresdner nach dem jüngsten städtischen Fördermittelgau beim Kulturpalast, wird es noch dauern, bis Dresdens Politiker aussprechen, was einige von ihnen bereits denken mögen: dass doch ein klassisches Orchester in der Stadt eigentlich völlig ausreiche? Ein Blick nach Stuttgart zeigt, wie es auch gehen könnte: Die Stadt hat – bei etwa vergleichbarer Größe – drei erstklassige (und erstklassig bezahlte) Orchester, ein von Stadt und Land tatkräftig gemeinsam unterstütztes Kammerorchester, zahlreiche weitere namhafte Ensembles. Und bald auch – neben Frieder Bernius und Helmuth Rilling – einen der renommiertesten Chorleiter des Landes: Hans-Christoph Rademann.