Die Semperoper wurde am 13. Februar 1985 wieder eröffnet. Es war ein kalter Tag. In der Stadt war was los. Polizei und Sicherheitskräfte waren unterwegs. Vor der ersten Premiere sprach Erich Honecker auf dem Opernplatz, die Rede soll kurz gewesen sein. Ich war nicht dabei, auch nicht bei der ersten Aufführung von Webers Oper „Der Freischütz“, inszeniert von Joachim Herz. Am nächsten Abend gab es eine Oper, die in Dresden uraufgeführt wurde und von hier aus um die Welt ging: „Der Rosenkavalier“, ebenfalls inszeniert von Joachim Herz, dem neuen Chefregisseur des Hauses. Den Rosenkavalier hatte er in der Schublade, denn eine für London geplante Produktion war nicht zustande gekommen.
Als stolzer Inhaber eines Premierenanrechtes konnte ich erst am 16. Februar, zur Uraufführung der Opernvision „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ von Siegfried Matthus, in der Regie von Ruth Berghaus. Die Berghaus, inzwischen international berühmt und umstritten, war in ihre Heimatstadt zurückgekommen: hier hatte sie bei Palucca studiert und noch ziemlich unverfälscht Traditionen des deutschen Ausdruckstanzes mitbekommen. Das sah man der für Dresdner Verhältnisse außergewöhnlichen Produktion an. Zudem nahm Matthus in seiner Komposition mit dem gewaltigen Eingangschor „In solchen Nächten / war einmal ein Feuer in der Oper“ auf ein Gedicht von Rilke, die Erinnerung an die Zerstörung des Theaters im Februar 1945 auf.
Weil ich so neugierig war, wurde ich für einen Tag Mitglied des Freundeskreises Ballett. So hatte ich die Chance, schon ein paar Tage vor der Eröffnung zu einer Hauptprobe in das Opernhaus zu kommen. Die Erinnerungen an Udo Zimmermanns „Brennender Friede“ sind verblasst, ebenso wie die an etliche weitere Premieren in der Dresdner Semperoper. An Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ mit der mächtigen fränkischen Tanzlinde auf der Festwiese, inszeniert von Wolfgang Wagner, erinnere ich mich dagegen gut; aber vor allem wegen des so wunderbaren Gesangs von Lucia Popp als Eva.
Dann kamen die Gastspiele. Am Ostersonnabend 1985 habe ich mich noch vor sieben Uhr angestellt. Ich wollte „Ariadne auf Naxos“ mit der Wiener Staatsoper erleben. Fast hätte ich es mir nicht leisten können! Als ich gegen elf Uhr an der Kasse war, gab es noch Karten, aber zum Preis von 50 Mark. Mein Zögern machte die ohnehin nicht gerade freundliche Kassendame schon ungeduldig, aber ich zahlte, saß dann erster Rang rechts, Reihe eins, ganz vorn, gewissermaßen Auge in Auge mit Edita Gruberova, die damals eine hinreißende Zerbinetta war. Später hat sie mit erzählt, dass sie damals eigentlich gar nicht in den Osten wollte. Sie hatte Angst, weil sie doch vor gar nicht langer Zeit erst „abgehauen“ war.
Die Zürcher Oper kam mit „Carmen“, in der Titelrolle Doris Soffel. Die sah so gut aus – eine Zeitung schrieb „Sophia Loren singt Carmen“. Als die Soffel vor kurzem in der Dresdner „Salome“ als Herodias immer noch abräumte, konnte sie sich an diese Überschrift erinnern. Nur leider war sie nicht von mir, sondern von Peter Zacher!
Die Hamburgische Staatsoper kam mit „Arabella“. Gundula Janowitz wurde mit Szenenapplaus empfangen, bevor sie überhaupt sang. Sie sang dann auch fantastisch. Ich wusste ja damals noch nicht, dass ich nur vier Jahre später selber fahren konnte wohin ich wollte, hören und sehen konnte, was ich wollte. Komisch: dieses einmalige Operngefühl, dass mir „Hören und Sehen vergeht“, hatte ich nur noch selten.
Noch eine Erinnerung im Februar. Die Babelsberger Filmstudios werden 100 Jahre alt. Wenn auch nicht der erste Operntonfilm („Die verkaufte Braut“, 1932, Regie Max Ophüls, in Münchner Studios gedreht) hier entstanden ist, gerade in den Studios der DEFA, wie sie in der DDR hießen, sind etliche Opernfilme produziert worden. „Figaros Hochzeit“ von 1949 brachte es auf drei Millionen Zuschauer in der DDR. Um Georg Wildenhagens zweiten und letzten Opernfilm der DDR gab es Krach schon während der Dreharbeiten, erst recht nach der Uraufführung 1950. Fand man den Film im Osten wegen seiner spaßigen Zutaten vergröbernd und vulgär und sah sich gezwungen, ihn im Sinne sauberer Volksbildung abzulehnen, gab es im Westen Lobeshymnen. Einig war man sich ob der Besetzung: kommende Weltstars wie Rita Streich und Martha Mödl liehen ihre Stimmen nicht weniger bedeutenden Schauspielerinnen wie Sonja Ziemann und Camilla Spira.
Dann gab es noch „Der fliegende Holländer“: 1964 versuchte sich Joachim Herz als Filmregisseur. In Erinnerung geblieben sind mir die ungewöhnlich großen und ausdrucksstarken Augen der polnischen Schauspielerin Anna Prucnal in der Rolle der Senta. Gesungen wurde die Partie von Gerda Hannemann. Zehn Jahre später verfilmte Horst Bonnet Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“: Rolf Hoppe als Jupiter ließ Horst Hiestermann für sich singen; Fred Düren als Styx machte alles selbst.
In den Studios der DEFA wurden auch etliche Inszenierungen von Walter Felsenstein von der Komischen Oper in filmtaugliche Formate übertragen. Beim kurzen Hineinsehen in die Felsenstein Edition mit zwölf DVDs waren die Erinnerungen an einige wenige noch in Berlin erlebte Aufführungen höchst lebendig. Ich konnte damals wie heute nicht verstehen, was das Besondere dieses gepriesenen realistischen Musiktheaters sein soll. Am ehesten komme ich mit grotesken Inszenierungen wie Offenbachs „Ritter Blaubart“ klar.
Und nach so viel Rückschau eine Vorschau. Am Freitag erscheint die CD der Solooboistin der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Céline Moinet. Sie spielt Solostücke von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, von Luciano Berio, Benjamin Britten und Elliot Carter. Da kann es noch so kalt werden, die so herzhafte und beseelte Art dieses der menschlichen Stimme verwandte Instrument zu spielen vertreibt jeden kalten Gedanken. Céline Moinet ist auch am Sonnabend, den 18. Februar, um 11.30 Uhr, in der Kreuzkirche dabei, wenn es in einem Dresdner Kulturprogramm aus gegebenem Anlass heißt: „Bunt bewegt. Kultur für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe“.
Herzlich, bis Montag,
Boris Gruhl