Während ein großer Teil der Republik sich im Februar willig mit Karnevalsschwänken vom Alltag ablenkt, versucht die Stadt Dresden immer noch Gedenkformen zu finden, mit denen die greulichen Zerstörungen jener Februarnacht 1945 irgendwie bewältigt und doch nicht größere Schuldfragen grotesk verkehrt werden, wie das in den letzten Jahren angereiste Horden versuchten. Dieses Jahr, da der 13. Februar auf einen Montag fiel, demonstrierten immer noch 1600 Neonazis – das sind, auch wenn die Stadt ihre Deeskalationsstrategie als großen Erfolg darstellt, 1600 zuviel.
Warum diese Vorrede in einer Kulturkolumne? Weil man sich auch als Konzertgänger dem Datum nicht entziehen kann. So wie in London die Besucher des alljährlichen "Remembrance Day"-Konzerts eine Mohnblume im Knopfloch tragen, hat sich in Dresdens Konzertsälen die weiße Rose als Zeichen des Gedenkens durchgesetzt, und schon lange vor ihr die Tradition einer Schweigeminute nach dem Konzert. (Früher musste das, wenn ich mich richtig erinnere, auch nicht in die Programmhefte geschrieben werden.)
Die zwei Gedenkkonzerte der beiden großen Orchester der Stadt verdienten bereits ausführlichere inhaltliche Würdigung in vorherigen Texten. Es wäre hier noch zu fragen: was bleiben mit ein paar Stunden, Tagen, Wochen Abstand für Eindrücke haften?
"Ich male häufig, wenn ich komponiere"
Von Lera Auerbachs "Requiem" sind das zuerst zwei außermusikalische Momente, die wiederhallen. Erstens ein im Programmheft zweiseitig abgedrucktes Foto, das eine Kundgebung auf dem Adolf-Hitler-Platz 1933 zeigt und damit leise, aber wirkungsvoll die Täter-Opfer-Problematik in Dresdens Gedenkkultur antippt. Und zweitens die fünf im Programmheft abgedruckten Ölgemälde aus den Händen der Capell-Compositrice, eins davon bereits "in Privathand". "Ich male häufig, wenn ich neue Werke komponiere," erfahren wir. Auf allen Bildern ist die Unterschrift der Künstlerin ein Detail, das sofort ins Auge fällt – und jetzt meine leise Pointe: ich wünschte, das wäre auch in der Musik so gewesen.
All die tönenden Anrufungen nämlich, "Buddham saranam gacchami", "Al hamdu Iillaahi rabbil 'alameen" oder "Yit'gadal v'yit'kadash sh'mei raba", all die Gebete in vierzig Sprachen und die Intonation des sechzehnten Abschnitts – "Frieden, wo Gott wohnt" – in der Stimmung 528 Hz (weil – so Auerbach – "man glaubt, dass C=528 Hz die Schwingung des Heilens, Wiederherstellens und der Erschaffung der Welt darstellt"): all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das musikalische Material vordergründig ephemer bleibt und an vielen Stellen nah an der Kitschgrenze vorbeischrammt. Zu dick bleibt der Orchestersatz in den innigeren Passagen; die Staatskapelle mochte da unter Michail Jurowski noch so strukturiert und zurückhaltend agieren. Insgesamt löst die Musik die weltumspannende, sozusagen allumfassende Herangehensweise der Textvorlage nicht ein, sie bleibt im eklektizistischen Bedeutungsgerangel stecken, als wenn Trauer und Trost am Ende dann doch ein eher westeuropäischer Wesenszug wären (ein interessanter Aufsatz zur Begrifflichkeit der Post-Avantgarde von Maria Kostakeva aus dem Jahr 2006 findet sich hier).
Und im Kulturpalast? Die Bedeutung dieses 5. Philharmonischen Konzerts für das Orchester und sein Publikum ist nicht zu überschätzen. Dass Heike Janicke und Wolfgang Hentrich sich unter Michael Sanderling das erste Pult teilten, ist da nur äußerer Beweis dessen, was dem Publikum (das im übrigen weder am 12. noch am 13. Februar den Saal ganz füllte – warum, wäre an anderer Stelle noch einmal aufzugreifen) bald plastisch vor Ohren stand.
Schostakowitsch rückt wieder ins innerste Kernrepertoire
Dmitri Schostakowitschs "Leningrader" Sinfonie ist schon rein außermusikalisch in der Heimat des Komponisten noch immer höchst bedeutungsgeladen. Siebzig Jahre nach ihrer Entstehung hat sie selbstredend die dortige Philharmonie-Spielzeit 2011/12 eröffnet, wird aber nie zum 8. Mai (dann erklingen heroische Heldenlieder) oder zum 27. Januar (dem Blockade-Ende) gespielt. Die Jahrestage der Erstaufführung liegen ja jeweils in den Sommerpausen. Aber zu anderen "offiziellen" Terminen – etwa vor der UN etc. – lässt das Orchester das Schlüsselwerk oft erklingen. Am 24. März 2012 etwa, dem Tag der Londoner Erstaufführung, spielt die Petersburger Philharmonie die Sinfonie unter Temirkanov im Londoner Barbican Center. (ein Hörtip daneben: nächsten Dienstag spielt das LSO unter Gergiev Schostakowitschs "Fünfte"; hier kann man live zuhören).
Ich habe mich bei der Aufführung ob der übermächtigen Aufladung des Abends nicht wohl gefühlt; Teilen des Publikums, das sich hernach entweder still erhob oder rasend applaudierte, und sogar einigen Orchestermusikern mag es ähnlich gegangen sein (worauf vielleicht die nicht zu überhörende Nervosität einzelner Solisten im Holz oder ein hörbarer Fauxpas in den Bässen gleich zu Anfang hindeutete). Die stolzen Streicherdeklamationen, die die ersten Violinen im dritten Satz mit einem gebrochenen D-Dur-Akkord eröffnen, gelangen überzeugender als dessen choralähnlicher Beginn im Bläsersatz. Aber so extrem, wie das Orchester die dynamische Skala ins Ohrenbetäubende ausreizte, wäre in den Mittelsätzen auch eine noch innigere Zurücknahme eindrucksvoll gewesen. Diese Kleinigkeiten sollten jedoch nicht den Blick darauf verstellen, wie viel charakteristisch "heutiger" der Orchesterklang in den wenigen Monaten von Sanderlings Amtszeit noch einmal geworden ist. (Der schrille Klarinettenklang im zweiten Satz!).
Schostakowitsch wurde in der Philharmonie in den vergangenen Jahren ausschließlich unter Gastdirigenten und eben mit sehr unterschiedlicher Herangehensweise zu Gehör gebracht. Roschdestwenski mit der "Ersten", Masur mit der "Dreizehnten", Yutaka Sado mit der Kammersinfonie op. 110a, Michail Jurowski mit der "Achten", Poschner mit der "Vierzehnten", Axelrod mit der "Fünften", Kreizberg mit der "Elften" usw. – das waren jeweils ganz unterschiedliche Welten. Wenn dieser Komponist nun unter Sanderling wieder ins innerste Kernrepertoire des Orchesters rückt, stehen uns sicherlich ob ihrer Prägnanz unvergeßliche Eindrücke bevor. Und dies hoffentlich nicht nur zu ausgewählten Gedenktagen.