Am Wochenende war ich in Leipzig. Kaum war die Dresdner Tanzwoche vorbei, da begann letzten Sonnabend das Festival Tanzoffensive in Leipzig. Das Festival für aktuellen Tanz präsentiert im fünften Jahrgang fünf Gastspiele, bietet Workshops und Diskussionsrunden an, zeigt im Großformat auf dem Augustusplatz vor der Oper Tanzfilme.Die Leipziger Festivalmacher wollen mit dem aktuellen Programm ein Zeichen setzen. Sie haben Produktionen eingeladen, die den Mut haben, Geschichten zu erzählen. Offenbar ist der Verdruss ganz schön groß, der Verdruss an den vielen Beliebigkeiten, die sich mehr oder weniger gekonnt über die Podien der freien Tanzszene bewegen oder nicht mal das.
Schluss, sagen die Kollegen in Leipzig. Schluss mit den ewigen Erforschungen des Bewegungsmaterials, wie es so schön und so oft in kryptischen Stückbeschreibungen zu lesen ist. Schluss mit schleichendem Selbstmitleid einsamer Tänzerinnen im Halbdunkel. Schluss mit den Männern, deren Art zu tanzen sich scheinbar einzig dem Leiden daran verdankt, dass sie männlichen Geschlechts sind. Schluss mit Rätseln und vor allem – so das Programmheft – mit jenem „selbstreferentiellen Spiel nach ungeschriebenen Regeln“!
Recht haben die Kollegen. Aber der Theorie muss die Praxis folgen. Wen haben sie eingeladen, was wird erzählt und wie? Ich habe die beiden ersten Gastspiele gesehen, die hätten unterschiedlicher nicht sein können, könnten aber je auf ihre Weise deutliche Zeichen setzen, wie es möglich ist, sich aus der Tanzsackgasse heraus zu bewegen.
An Bewegung mangelt es in den Choreografien der Kristel van Issum nicht, die sie mit ihrer Kompanie „T.R.A.S.H.“ aus Tilburg in den Niederlanden zur Eröffnung des Festivals zeigt. Zwei kurze Arbeiten, ein Duo, ein Solo, dazu Musik live, Cello und Stimme, bekannte Geschichten, Beziehungen und ein Überlebensversuch im Niemandsland. Aber weil der Name der Truppe das Programm ist, preschen die Stile, die Techniken, die Klänge nur so aufeinander. Es kracht gehörig. Die Tänzer sind präsent, immer in Aktion, keine Zeit für Seelenpein auf dem Silbertablett, dafür Sprünge und Stürze, Schütteln, Aufstehen, weiter Tanzen, Humor und blaue Flecke inbegriffen.
Der Anfang ist gemacht, programmatisch gesehen funktioniert dieser Auftakt des Festivals gut. Dann am nächsten Abend Besuch aus der Schweiz, aus Bern, die Truppe hat den schönen Namen „Peng! Palast“. Ist auch Programm, wird sich zeigen: peng, peng, peng, peng, scharfe Schüsse gegen den guten Geschmack, oder was man dafür hält.
Hier kommt alles zusammen, was zusammengehört und was nicht zusammengehört auch. Film, Tanz, Theater, Slapstick, ein Flohzirkus der verratenen Tricks, eben, so der Titel des Stückes: „Holycoaster (S)hit Circus“. Es geht um Geschichten, die erst mal gefunden bzw. erfunden werden müssen. Vier propere Schweizer Jungs der Generation in der eigentlich alles bisher ganz gut ging, haben plötzlich keine Geschichten. Welch Glück, einen deutschen Großvater zu haben, und welch Glück, wenn der nicht nur so ein gewöhnlicher kleiner Nazi war, sondern ein richtiges großes Tier. Das könnte Zirkus werden, ohne Netz und doppelten Boden. Vier Schweizer Jungs borgen sich deutsche Geschichten und machen eine Reise nach Jerusalem zu ihren Kollegen vom „Machol Shalem Dance House“. Das muss ein Eiertanz werden, ein Tanz auf dem Vulkan, denn die jüdischen Kollegen sind ebenso klischeeverhaftet und haben höllischen Spaß daran so gut wie alle bösen Seiten des deutsch-jüdisch-israelisch-arabischen Bilderbuches aufzublättern. Also springt man gemeinsam in jeden übervollen Fettnapf, rutscht genüsslich aus in jeder schlüpfrigen Pfütze, spricht jede Peinlichkeit aus, bis man es selber glaubt, das Leben ist ein einziger Witz, ein lausiges Laienspiel. Aber manchmal werden Witze wahr, tödlich, oder schlimmer noch, ein roter Flitzer fährt in Israel einen Schweizer, der eben noch einen brüllenden Juden-, Schwulen-, Ossi-, oder Türkenwitz erzählt hat, zum Krüppel. Aber da kennen die Clowns des schlechten Geschmacks vom Berner Peng! Palast gar nichts, keine Gnade, jetzt geht die Party richtig los!
An dieser Performance werden sich die Geister scheiden. Im Kontext des Festivals ist sie genau richtig. Ausgesprochen provokant und dennoch höchst konstruktiv im Umgang mit Geschichten über dunkle deutsche Geschichten, eben ein Eiertanz und scharfe Schüsse ins Gewissen. Ich glaube ich fahre noch mal zu den Kollegen in Leipzig, ganz entspannt, als Gast zum Festival, das andere verantworten, mal sehen ob sich die Begeisterung des Anfangs wieder einstellt. Ich teile es Ihnen mit.
Bis Montag, herzlich,
Boris Gruhl