Gerade 46 Jahre alt, starb der Choreograph Uwe Scholz am 21. November 2004 in einer Klinik. Seit 1991 war Scholz Chefchoreograf in Leipzig gewesen; von Krankheit gezeichnet war er schon lange, immer wieder Flucht in den Rausch, immer wieder blieben Choreografien unvollendet oder wurden buchstäblich in allerletzter Minute vor dem Beginn der Premiere fertig. In Leipzig wollte man die Zusammenarbeit nur unter der Bedingung fortsetzten, dass Scholz ein Jahr pausiere. In dieser Pause hat er sich für immer verabschiedet.
Seine letzte Choreografie entstand in Dresden; da war er schon von allem, was folgen sollte, gezeichnet, in Leipzig konnte er zuvor anlässlich mancher Premieren nur noch gestützt vor den Vorhang kommen. Seine Dresdner Arbeit „Fragmente-WINTERREISE..“ hatte in der Semperoper am 23. November 2003, fast genau ein Jahr vor seinem Tod, Premiere. Für Vladimir Derevianko, den damaligen Dresdner Ballettchef, hatte Scholz eine Auswahl von Liedern aus Schuberts Abschiedszyklus choreografiert. Was man zunächst mit Befremden sah, erschloss sich erst nach dem Tod von Uwe Scholz. Er, dessen Tanz so oft in die Höhe führte, ließ zu Schuberts Liedern den Tänzer Derevianko immer tiefer zu Boden gehen. Als Derevianko ein Jahr später, während der Trauerfeier in der Leipziger Oper, diese Choreografie noch einmal tanzte, gingen mir die Augen auf. Im Rückblick schien sich manches zu erschließen, auch die großen Unterschiede innerhalb seiner Leipziger Arbeiten. Wahrnehmbarer als zwischen „Große Messe“ von Mozart, 1998 in Leipzig uraufgeführt, und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, in der Doppelfassung einmal für zwei Klaviere als Solo und in der Orchesterfassung für die ganze Kompanie, am 22. Februar 2003 in Leipzig uraufgeführt, könnten sie nicht sein.
Mit Mozarts Messe, gebrochen durch die Musik des 20. Jahrhunderts von György Kurtag und Arvo Pärt, gelang Scholz nach Meinung des Tanzkritikers Horst Koegler ein Vermächtniswerk. Koegler sprach anlässlich eines Gastspiels der Leipziger 2005 in Ludwigsburg mit den unvergessenen Protagonisten Kioko Kimura, Christoph Böhm und Giovanni die Palma von der „Kathedrale für Leipzig“. Scholz war für ihn in diesem Werk besonders ein Architekt ganz aus dem Geist der Musik, der norddeutsche Protestant in der Auseinandersetzung mit der katholischen Liturgie, wie sie Mozart wandelte, und wie sie durch multireligiöse Einflüsse der Spiritualität des 20. Jahrhunderts in den Kompositionen von Kurtag und Pärt gebrochen wird.
„Und noch etwas Besonderes: dies ist eine ökumenische Kathedrale! Indem sie Mozarts römisch geprägten Katholizismus mit Scholzens norddeutschem Protestantismus vereint. Die Stadt Leipzig kann stolz auf diese einmalige kulturhistorische Tat sein und ist sich hoffentlich ihrer Verpflichtung bewusst. Scholzens „Große Messe“ gehört unter Denkmalsschutz gestellt! Mich überwältigt sie immer wieder durch ihre Schönheit, ihre Klarheit und ihre so wunderbar stimmige Musikalität. Dabei bilde ich mir nicht ein, ihr Mysterium wirklich ergründet zu haben der Abstieg in ihre düstere Krypta zu den Klängen von György Kurtag und Arvo Pärt irritiert mich jedesmal wieder aufs neue,“ so Horst Koegler damals.
Sie waren selten einer Meinung, Koegler und Wiebke Hüster von der FAZ, aber am 25. November 2003 schrieb auch Wiebke Hüster: „In den Choreografien von Uwe Scholz wird Musik durch den Tanz sichtbar. Man kann sie sehen, die Musik. Indem man dem Tanz zuschaut, wird sie in ihrer besonderen Architektonik „mit-lesbar“(…) – der Tanz gibt dem Wesen der Musik einen Körper. Musik und Tanz finden zur gemeinsamen Quintessenz.“
Fünf Jahre später, in „Le Sacre du Printemps“, insbesondere im ersten Teil, als Solo für Giovanni die Palma kreiert, zur Fassung des Komponisten für zwei Klaviere, ist ein Zerstörter als Choreograf am Werk und er choreografiert die verzweifelte Selbstzerstörung eines Menschen, eines Tänzers, auf der riesigen Tanzbühne der Leipziger Oper, die aber bei genauerem Hinsehen die übergroße Abbildung einer Gefängniszelle ist. Auf einer DVD ist eine Aufführung dieses Abends vom 22. Februar 2003 zu sehen.
Der Berliner Kritiker, der auch anlässlich der Gedenkfeier für Scholz sprach, schrieb zur Solofassung von einer getanzten Autobiografie, musikalisch als Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ verkleidet. Für Geitel ist es eine „Einsamkeitsfassung“, die in der grandiosen Interpretation durch Giovanni die Palma „wie ein Schrei, der die Augen visiert“ über die Bühne gellte. „Ein sichtbarer Hilferuf, ausgestoßen von einer einzigen, gottverlassenen Brust. Nie zuvor, nie danach hat es ein vergleichbares choreografisches Werk gegeben. Man sah bei der Leipziger Uraufführung aus dem Parkett beinahe fassungslos (oder zumindest verständnislos) zu ihm auf. Scholzens Interpreten freilich sahen deutlich, wie es um ihren Choreografen stand.“ (Klaus Geitel im Booklet der DVD beim Label medici arts)
Giovanni die Palma, auch für einige Zeit erster Solist des Balletts der Semperoper in Dresden unter Vladimir Derevianko, studiert Ballette von Uwe Scholz weltweit ein; die Nachfrage ist ungebrochen.
In der Semperoper hatten wir das Glück, „Die Schöpfung“ von Haydn, „Rot und Schwarz“, als großes Handlungsballett zur Musik von Berlioz oder etliche Choreografien zu sinfonischen Werken von Uwe Scholz zu sehen. Mario Schröder, selbst langjähriger erster Solist bei Scholz in Leipzig, jetzt Ballettchef an der Oper dort, ist verpflichtet, immer wieder Stücke ins Repertoire zu nehmen.
Auch beim Stuttgarter Ballett, wo Scholz 1973 bei John Cranko mit der Ausbildung begann, 1980 einen ersten Vertrag als Choreograf erhielt und nach Crankos Tod zum ständigen Choreografen berufen wurde, werden immer wieder Werke von ihm getanzt.
1985 ging Uwe Scholz nach Zürich und wurde sechsundzwanzigjährig zum bis dahin jüngsten Ballettchef einer so bedeutenden Kompanie. Es war 1991 ein Ende mit Schrecken in Zürich: die Probleme, die später zu seinem Tod führen sollten, begannen. Man reagierte mit Spott, mit Hohn.
Es war dann Udo Zimmermann, Leipziger Intendant der Oper, der dem ausgesprochen schwierigen Genie vertraute und ihm einen Neuanfang in Leipzig ermöglichte. Sternstunden für das Leipziger Ballett, nervenaufreibende, tragische Situationen gehörten dazu. Zimmermann stand zu Scholz; dafür gebührt ihm in der erinnernden Rückschau großer Dank, denn leicht hat er es sich nicht gemacht. Dann ging Zimmermann nach Berlin, Scholz blieb bei der Kompanie. Das Ende kündigte sich an. Dazu Klaus Geitel in der Leipziger Trauerfeier: „Er blieb ein zarter, empfindsamer Mensch, nicht geschaffen ins Räderwerk organisatorischer Auseinandersetzungen zu geraten und sie auch noch mit heiler Haut zu bestehen. Er war eine Kerze, die sich an beiden Enden gelichzeitig entzündet und unaufhaltsam, aber spektakulär niederbrennt. So war Uwes Leben. Dennoch – mit dem Schein dieser Kerze, gegossen aus seiner eigenen Existenz, überstrahlt er die Ballettwelt mit seinem im wahrsten Sinne des Wortes unverwechselbar eigenen Licht. Udo Zimmermann sah es leuchten.“ Bewahren vor dem Verlöschen konnte er es nicht.
Uwe Yaron Leonhard Scholz, geboren 1958 in Darmstadt, gestorben am 21. November 2004 in Berlin.