Vladimir Jurowski war erst zu Beginn dieses Jahres in Dresden und dirigierte hier das Gedenkkonzert der Sächsischen Staatskapelle zum 13. Februar. Damals stand das so beziehungsreiche Requiem „Dresden – Ode an den Frieden“ der Capell-Compositrice Lera Auerbach auf dem Programm. In diesen Tagen ist er wieder in der Stadt und dirigiert „Musikalische Vermächtnisse“. So hat die Sächsische Staatskapelle ihr Konzert in der Frauenkirche überschrieben, das am Samstag einen Bogen von Johann Sebastian Bach über Rudolf Barschai bis hin zu Hans Werner Henze spannen wird.
Bei seiner Ankunft in Dresden hat Vladimir Jurowski aber erst einmal aufgeatmet. Denn er kam direkt aus der israelischen Hauptstadt Tel Aviv, wo er eine konzertante Aufführung von Peter Tschaikowskis Oper „Pique Dame“ dirigiert hat. Zeitgleich gab es Luftalarm, weil nicht weit entfernt vom Konzertsaal Raketen einschlugen. Wer die aktuellen Nachrichten verfolgt hat, kann die Brisanz solcher Erfahrungen ungefähr erahnen.
Für den 1972 in Moskau geborenen Künstler allerdings muss dieser erste Besuch in Israel wie ein Déjà-vu gewesen sein. Denn er erinnert sich an den 11. September 2001, als er mit seiner Frau und der fünfjährigen Tochter New York besuchte, um „Eugen Onegin“ einzustudieren. Auch dies eine Oper von Peter Tschaikowski. Damals wurden ihm die Kriegserzählungen seiner Großmutter plötzlich sehr präsent. Und wieder schlug das Schicksal in London zu, erst im November 2001, als es Bombenalarm in der dortigen U-Bahn gab, dann zu den Anschlägen im Sommer 2005. Jurowski war immer dabei.
Unter solchen Vorzeichen ist ein Aufatmen in Dresden geradezu verständlich. Obwohl ein enorm anspruchsvolles und gleichzeitig ziemlich todesdüsteres Arbeitsprogramm vor dem Dirigenten liegt. Am Samstag wird er in der Frauenkirche das Opus magnum von Rudolf Barschai aufführen. Der hat in seinen letzten Lebensjahren „Die Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach orchestriert und die Schlussfuge, die Bach unvollendet gelassen hatte, weitergeschrieben. Barschai, der 2010 zu den 1. Internationalen Schostakowitsch Tagen in Gohrisch geladen war, widmete diese Subskription der Staatskapelle, konnte aber die Uraufführung nicht mehr erleben. Er verstarb Anfang November 2010.
Dass die posthume Uraufführung nun in Dresden stattfinden wird, ist schon ein ganz besonderer Anlass. Dass sie aber auch noch mit einem Requiem verbunden sein wird, ist die Idee von Vladimir Jurowski. Der fand Barschais vollendete Instrumentierung der „Kunst der Fuge“ für ein solitäres Werk im Konzert „etwas karg“ und wollte es – nach seinen Erfahrungen mit Lera Auerbach – unbedingt mit dem Schaffen des aktuellen Capell-Compositeurs verbinden. Dass daraus nun ein musikalischer Nachruf auf Hans Werner Henze wird, hat niemand ahnen können. Der aus Gütersloh stammende Maestro ist am 27. Oktober ausgerechnet in Dresden verstorben, wo er noch einmal der Pflege seines Schaffens beiwohnen konnte. 86 Jahre wurde er alt und hat ein Œuvre hinterlassen, das so eigenständig und umfangreich ist, als hätten Dutzende geniale Tonsetzer daran mitgewirkt. Der stets kreative Geist Hans Werner Henze jedoch hat all dies unermüdlich allein hervorgebracht.
Sein 1992 entstandenes Requiem, das dem Freund und Kollegen Michael Vyner gewidmet ist, der drei Jahre zuvor seiner Krankheit erlag, orientiert sich zwar am „klassischen“ Requiem, ist aber alles andere als ein geistliches Werk. Zwar stehen die originären Bezeichnungen über den einzelnen Sätzen, doch Henze verzichtete bezeichnend auf jedwede Singstimme, lässt Text und Kontext bestenfalls in der Musik erahnen. Da hat der schelmische Meister bei aller persönlichen Betroffenheit eine gewitzte Symbolik betrieben, die ganz aus dem Geist humanistischer Traditionen heraus rührt. Als einzige Solostimme lässt er die Trompete zu, die nun auch in Dresden der Uraufführungssolist Hakan Hardenberger blasen wird, um mit ihr die Menschwerdung entgegen jedwede „göttliche“ Schöpfungsidee zu setzen.
Diesen Bogen vom glaubensvollen Bach über den vielfach gedemütigten Barschai bis hin zum Genussmenschen Henze zu schlagen, das ist ein Wagnis, ein Experiment; das kann ein Schock sein, aber auch eine heilsame Erfahrung um die Kraft der Musik, die ganz aus dem Geist einer tief verinnerlichten Menschlichkeit kommen kann.