Es soll sie ja geben, ordentliche Menschen, die auch ihre Programmhefte systematisch geordnet aufbewahren und mit einem Blick entsprechende Hefte finden, Informationen oder Erinnerungen blitzschnell abrufen können. Bei mir ist das nicht so, immer wieder Stapel im Regal, immer wieder der Vorsatz, morgen wird geordnet, wird aufgeräumt und dann reicht auch ein Handgriff um nachzusehen, wer wann und wo welche Partie gesungen hat…
Der Tag des Aufräumens ist ein Tag der Überraschungen. Manche dieser Hefte sind schon rein äußerlich so fade, dass die Lust vergeht, da auch nur mal hineinzusehen. Andere hingegen laden ein, die Erinnerungen aufzufrischen. Manche bleiben auch erst mal in Griffweite liegen.
Da sind seit einigen Jahren die Hefte im handlichen CD-Bookletformat des Theaters in Görlitz. Das Dramaturgenteam Ronny Scholz und Sebastian Ritschel zeichnen verantwortlich. Jüngstes Kleinod aus Görlitz zur Premiere „Kleider machen Leute“, jener musikalischen Komödie nach Gottfried Kellers Novelle mit der Musik von Alexander von Zemlinsky, auch wenn das „von“ fehlt und aus Zemlinsky „Zemlinksy“ geworden ist, jedenfalls auf Seite eins, dann geht es richtig weiter. Passend zum Stück eine Bildfolge aus Herlinde Koelbls Fotoband „Kleider machen Leute“, liegt natürlich nahe, zeigt aber doch sehr genau, wie Kleider Leute machen, denn die Meisterfotografin stellt das „Original“ ihrer Modelle der „Verkleidung“, und das ist jeweils der Mensch in „Dienstkleidung“, gegenüber. Da wird etwa aus dem lässigen Typen von nebenan in der Uniform des Flugkapitäns ein scheinbar völlig anderer Mann. Auch die Fotos von der Aufführung sind gut gewählt, beim Betrachten sind die Szenen lebendig, mancher Klang wieder im Ohr. Also liest man auch ganz gerne, was Adorno über Zemlinsky schrieb, der Anmut und Zartheit der Musik, gerade in diesem Stück lobt. Und wer zuvor noch schnell die Novelle von Gottfried Keller gelesen hatte, wird ganz gerne nachlesen, was Gerhard Kaiser dazu schreibt und Michael Stegemann mit seinen Anmerkungen zur musikalischen Komödie mit dem Libretto von Leo Feld, die daraus geworden ist. „Spießbürgerlich feierlich. Die musikalische Komödie“ heißt Stegemanns Buch, Zürich 1991, derzeit wohl vergriffen, heute noch ins Antiquariat?
Besonders glücklich sind die Erinnerungen beim erneuten Durchblättern eines Programmheftes, wenn auch die Aufführung in guter Erinnerung ist. Das kommt in diesem Fall dazu, „Kleider machen Leute“ in Görlitz, das war zur Premiere am Sonnabend eine Entdeckung, musikalisch was Werk und Spiel der Neuen Lausitzer Philharmonie unter der Leitung von Ulrich Kern betrifft, dazu Chor und Solisten des Ensembles, szenisch in der Zusammenarbeit des Regisseurs Klaus Arauner mit den Choreografen der Görlitzer Tanzkompany Dan Pelleg und Marko E. Weigert.
Und noch ein Programmheft liegt auf dem Schreibtisch. Es ist eine Tageszeitung, „La voce die torre“, Gazettino di informazione per torresi e turisti. In Torre die Venere spielt Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“, ebenda spielt die Oper von Stephen Oliver, dessen Libretto sich weitestgehend an die originalen Ereignisse hält.
Manfred Weiß, der auch das Libretto ins Deutsche übersetzt hat, hat die Oper für die Junge Szene der Semperoper auf der Probebühne Semper 2 in der Ausstattung von Kattrin Michel inszeniert. Es ist eigentlich ein Raumkunstwerk geworden in dem wir uns als Zuschauer sogar bewegen und direkt oder indirekt mitspielen. Keine Bange, das hat nichts mit den üblichen, dämlichen Mitmachaktionen zu tun. Der Ort ist ein Restaurant, ein Café, zwischen Strand und Industrielandschaft. Wer man an der Mittelmeerküste bei Viareggio war, kennt das. Erst sehen wir auf das Café herab, dann sitzen wir an den weiß gedeckten Tischen und bekommen Mineralwasser, wenn ich mich richtig erinnere aus Oppach, San Pellgrino schmeckt besser, übersteigt aber den Etat der Staatsoper, die ja den Eingangsbereich der Semperoper für zwei Millionen Euro umbauen muss. Aber das ist nicht das Thema. Es geht um eine außerordentlich erfreuliche Premiere und das ebenso außergewöhnliche wie gelungene Programmheft dazu, eben jene Tageszeitung, wie sie ins Café südlicher Gefilde gehört. Nun ja, Espresso wäre auch nicht schlecht.
Die Programmheft-Tageszeitung im noblen Schwarz-Weiß mit bester Fotoqualität hat der Dramaturg Stefan Ulrich als Redakteur gestaltet, für das besondere Layout stehen die Namen Fons Hickmann m23, Björn Wolf, Susann Stefanizen und Melanie Köcheler. Und in dieser Zeitung steht alles drin, was man so wissen müsste und möchte über Thomas Mann 1926 mit Familie am Mittelmeer, seine Erlebnisse mit einigen nationalistischen Entgleisungen der Italiener den Deutschen gegenüber, seiner Verzückung angesichts des jungen Kellners Mario, der Attraktion der Zauber- und Hypnoseschau des Cesare Gabrielli, bei Mann 1930 Cipolla, dem es gelingt im Zustand der Hypnose dem hübschen jungen Mario einen Kuss auf die nicht mehr ganz junge Wange abzuluchsen. Mario schenkte den Manns am nächsten Tag wieder den Tee ein. In der Novelle erschießt er den Zauberer.
Aber wie gesagt, Zeitung lesen hilft in diesem Fall, empfiehlt sich auch im Nachgang dieser empfehlenswerten Aufführung, die in Zusammenarbeit der Staatsoper mit der Hochschule für Musik unter der Musikalischen Leitung von Ekkehard Klemm entstanden ist.