Der alte Mann und das Mehr: Kurt Masur verweigert sich den großen Gesten, er wird mehr und mehr Minimalist. Hier eine Geste und da ein Andeuten, die Musiker haben verstanden. Der Effekt ist enorm. Anbei ein paar ganz subjektive Bemerkungen zum Beethoven-Zyklus von Kurt Masur und der Dresdner Philharmonie. Am vorigen Wochenende gab es den Auftakt dazu. Zum Nikolaus-Donnerstag folgt der Schlussakkord. Der alte Mann teilte das Meer nicht. Er hat es gebändigt.
Warum tut er sich das immer noch an? Diese Frage mag im Raum gestanden haben, doch niemand hat sich erlaubt, sie laut auszusprechen. Kurt Masur ist inzwischen 85 Jahre alt, hat eben erst leidlich einen Bühnenunfall auskuriert, er kann auf verdienstvolle Beethoven-Zyklen verweisen, von denen der mit dem Leipziger Gewandhausorchester nur einer gewesen ist. 2003 wurde ein „neuer“ Beethoven-Zyklus mit dem Orchestre National de France erarbeitet („neu“, weil auf der kritischen Edition von Breitkopf & Härtel basierend), in der Zwischenzeit folgte ein weiterer mit dem London Philharmonic Orchestra – jetzt unterzieht sich der Maestro noch einmal der Mühsal, alle neun Beethoven-Sinfonien quasi am Stück aufzuführen. Erstmals in dieser neuen Edition mit einem deutschen Orchester, eben der Dresdner Philharmonie.
„Ich tue mir das doch nicht an,“ entgegnet der Meister, das sei auch keine Strapaze für ihn, sondern – im Vergleich mit früherem Arbeitspensum – eher eine „Ausruhposition.“ Es ist aber nicht mehr früher, das sieht man, das spürt man und das weiß auch Kurt Masur selbst. Auf Anraten seiner Ärzte hat er den ersten Abend als Artist in Residence gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Ken-David Masur bestritten. Der durfte Beethovens 2. Sinfonie leiten, dem Vater oblagen die 1. sowie die 3. Zwei verschiedene Masur-Handschriften in drei Beethoven-Sinfonien während eines Konzertes, das dürfte Seltenheitswert haben. War allerdings nicht ganz so spontan zustande gekommen, wie es für das Konzertpublikum im ausverkauften Schauspielhaus den Anschein hatte: „Nein, das hat sich vorab schon ergeben, denn die Erfahrung lehrt, die drei ersten Sinfonien am Stück zu dirigieren, das geht an die Grenze der Möglichkeiten. Vor diesem Risiko haben mich die Ärzte gewarnt. Schon für einen jungen Dirigenten wäre das etwas Ungewöhnliches, aber für einen älteren wäre das einfach nicht klug.“
Die Hörerschar wusste es tief bewegt zu schätzen – nach dem Finale der „Eroica“ und tags drauf auch nach der 5. Sinfonie herrschte erst einmal Schweigen im Saal. Der Meister verstand: „Das ist mir in Dresden schon ein paarmal passiert. Es beweist mir die Ehrlichkeit des Zuhörens. Ich glaube, die Menschen haben gespürt, dass sich das Orchester mit mir in einer Weise identifiziert hat, wie ich mich mit dem Orchester identifiziert habe. Wenn diese Gemeinsamkeit einer Interpretation beim Publikum so verstanden wird, dann sind alle gemeinsam im selben Boot gewesen. Dann spürt man, dass es gelungen ist, die Menschen mitzunehmen in eine Welt, von der man manchmal glaubt, allein da zu sein.“
Auf dieser Reise kann, wer rechtzeitig eine Karte ergattert hat, dem einstigen Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie und ihrem heutigen Ehrendirigenten am 6. Dezember noch einmal gelauscht werden. Im Albertinum werden dann Beethovens Sinfonien Nr. 6 und 7 erklingen. Der komplette Zyklus aller neun Sinfonien wird leider nur auf der am Freitag beginnenden Gastspielreise in München zu hören sein.