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Alle Jahre

Das Weihnachtsoratorium in der Kreuzkirche zu hören, ist für viele Dresdner traditionell der Beginn der Weihnachtsfeiertage (Foto: M. Morgenstern)

"Jauchzet, frohlocket!" – Es sind die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach, die alljährlich die Festsaison einläuten, die sie krönen, und mit denen wir uns im neuen Jahr wieder von den Weihnachtsfeiertagen verabschieden. Das Weihnachtsoratorium ist im zwanzigsten Jahrhundert zum wichtigen Signaturwerk avanciert: viele können sich die Adventssonntage ohne Hirtenarie im Ohr, ohne "Großer Herr, und stahahahaharker König" oder "Brich an, o schöhönes Morgenlicht…" gar nicht vorstellen. Die interessante Frage aber: in welcher Einspielung?

Zwar liegen mir verlässliche Zahlen nicht vor, aber meine Vermutung ist, dass Martin Flämigs legendäre Einspielung von 1974 auf Dresdner Plattentellern (und, in Nachpressungen, in CD-Spielern) noch sehr präsent ist. Mit Peter Schreier als Evangelisten, mit Arleen Augér, Annelies Burmeister und Theo Adam sind die Kantaten hochernste, festliche Verkündigungsmusik, mit einem Schuss Weihrauch. Der Kreuzchor klingt mächtig gewaltig; vor dem rechten Pathos hat Flämig in den großen Chören keine Angst. "Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen", oder die innig gesungenen Choräle ("Ich will dich mit Fleiß bewahren") – diese Interpretation vergisst keiner. Der Kruzianer Peter Schreier hat das Werk in seiner Karriere oft und gern gestreift; herausragende Einspielungen und Mitschnitte datieren auf 1981 (unter Harnoncourt), 1985 (unter Helmuth Rilling) oder 1997 (unter Günter Jena). Beliebt ist auch eine weitere, schon etwas ältere Einspielung: in den achtziger Jahren nahm die Staatskapelle das WO unter Schreiers Leitung in der Lukaskirche auf.

Zumindest in Dresden müssen sich alle Nachkommenden an diesen klingenden Meilensteinen messen lassen, ob es nun die des Dresdner Kammerchors ist (2005, in etwas gewöhnungsbedürftigem Raumklang), der neueste Mitschnitt aus der Frauenkirche (erschienen im Oktober 2012) und natürlich auch die Töne, die aus Leipzig herüberwehen (herausragende Einspielungen der jüngsten Zeit: Chailly/Gewandhausorchester/Dresdner Kammerchor und Biller/Gewandhausorchester/Thomarchor).  

Schönes Cover, hörenswerte Einspielung: der Thomanerchor unter Georg Christoph Biller (2010); zwei Thomaner teilen sich den Sopranpart, dazu Christoph Genz und Martin Petzold die Tenorpartie

Zur Tradition für viele ist es geworden, vor Weihnachten einen der drei Aufführungsabende des Werks in der Kreuzkirche zu besuchen. Für den Kreuzchor ist "das WO" der Höhepunkt des Jahres, die Dresdner Philharmonie begleitet den Chor verlässlich und unaufgeregt. Dazu lädt Kreuzkantor Kreile Solisten von nah und fern, manchmal gute, manchmal schlechte. Besonders die Evangelisten haben es in Dresden schwer, denke ich – an Schreier, so der jährliche Ténor unter den Hörern beim Verlassen der Kirche, reicht eben niemand heran.

Eine legendäre Einspielung des Werks unter Martin Flämig ist bald vierzig Jahre her…

Nun versucht seit ein paar Jahren Frauenkirchenkantor Matthias Grünert, die Dresdner in sein Haus zu locken – mit seinem kleinen, feinen Kammerchor, mit interessanten Solisten, mit einem klangtechnisch äußerst wachen und versierten Orchester (dem "ensemble Frauenkirche"). Interessant ist, die beiden Lesarten des Oratoriums gegenüberzustellen: auf der einen Seite in der Kreuzkirche ein vielstimmiger Knabenchor, mit seinem runden, weichen, heuer manchmal etwas matten Klang. Auf der anderen Seite – in der Frauenkirche – hört sich das Werk beweglicher, spielerischer, spitzer an; manchmal läuft die Grünertsche Interpretation – mit interessanten Klangflächenspielen in den Chorstimmen – fast Gefahr, manieriert zu wirken. Die pistolenschussartigen Exzesse des Solopaukers in der Wiederholung des Eingangschors wollen sicherlich an das originale "Tönet, ihr Pauken" erinnern – aber allmächtig dominieren sollte diese Anspielung nicht. Wo unter Kreile Cembalo und Orgel durchweg begleiten (und Peter Kopp dabei leider stets recht ideenlos wirkt), dirigiert Grünert von der Orgel aus, mit der er die Rezitative begleitet.  

An zwei Abenden wurden 2011 unter Matthias Grünerts Leitung alle sechs Kantaten in der Frauenkirche aufgeführt; der Mitschnitt ist seit Oktober erhältlich

2012 war in meiner Wahrnehmung das erste Jahr, in dem Grünert, was die interpretatorische Güte betrifft, mit Pauken und Trompeten am Kreuzchor vorbeizog. In der Kreuzkirche mag dieses Jahr die Erschöpfung von der gerade zurückliegenden Japanreise und einer gleichzeitigen Deutschlandtournee an der Kondition des Chors gekratzt haben. Schleppend begann gestern schon der Eingangschor, Konsonanten gingen unter. Nicht immer ein glückliches Händchen bewies Roderich Kreile generell in den letzten Jahren mit der Auswahl der Solisten. Man muss mindestens bis 2009 zurückgehen, um einen erinnernswerten Evangelisten zu nennen (Markus Brutscher übernahm damals den Part, in beiden Kirchen!) Andreas Weller enttäuschte mich schon letztes Jahr beim Kreuzchor; unsicher wirkte er, auch dieses Jahr musste man bei seinen Spitzentönen ein bisschen Angst haben. Und Kreuzchor-Debütant Raphael Sigling wurde in der Kreuzkirchen-Akustik in der Bassarie "Großer Herr und starker König" von der Solotrompete an die Wand gespielt. Warum gibt der Kreuzkantor eigentlich nicht vorrangig ehemaligen Kruzianern die Chance, mit Weihnachtsoratoriums-Solopartien zu glänzen? Die Thomaner machen es vor: dort teilen sich dieses Jahr die ehemaligen Chormitglieder Christoph Genz und Martin Petzold die Tenorpartie (Evangelist / Arien). Beide Sänger sind hervorragende Solisten; 2012, bekanntlich ein großes Jubiläumsjahr für die Thomaner, dürfte so in Leipzig erstklassig ausklingen.

2005 nahm Hans-Christoph Rademann das Werk mit dem Dresdner Kammerchor auf; Solisten waren damals Katarzyna Jagiello, Gerhild Romberger, Marcus Ullmann und Jochen Kupfer

Natürlich wird das Werk in Dresden an vielen Orten musiziert, auch wenn die Zeitungen es nicht schaffen, all die kleineren Aufführungen zu würdigen. Wer für den Kreuzchor keine Karte mehr bekommen hat, nach vielen Jahren Kreuzkirche Lust auf ein paar andere Klangvorstellungen hat oder die Touristen in der Frauenkirche vermeiden möchte, die nach dem Eingangschor der ersten Kantate stets freudig losklatschen, versuche es doch einmal zu einem der unten aufgeführten Termine in den anderen Dresdner Kirchen. Oder er höre einmal meine zur Zeit liebste Aufnahme des Werkes: zum Auftakt des Bach-Jahres musizierten der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner; die Solisten waren Claron McFadden, Bernarda Fink, ein fantastisch aufgelegter Christoph Genz und Dietrich Hentschel. 


Samstag, 15. Dezember 2012, 19.30 Uhr

Martin-Luther-Kirche Dresden-Neustadt

Am Weihnachtsabend 2009 war der Dresdner Kammerchor mit Riccardo Chailly in Bethlehem zu Gast. Die Einspielung mit dem Gewandhausorchester erschien im Oktober 2010, Solisten waren Carolyn Sampson, Wibke Lehmkuhl, Martin Lattke und Wolfram Kattke

KANTATEN I – III
Ulrike Staude, Sopran
Susann Jacobi, Alt
Manuel Günther, Tenor
Jörg Hempel, Bass
Dresdner Bachchor
Sinfonietta Dresden
Leitung: Markus Leidenberger


Sonntag, 16. Dezember 2012, 16 Uhr
Luther-Kirche Radebeul

KANTATEN I-III
Antje Kahn, Sopran
Natalia Krone, Alt
Frank Blümel, Tenor
Georg Streuber, Bass
Collegium musicum Dresden
Mitglieder der Luther-Kurrende
Leitung: KMD Gottfried Trepte
 

Ein Sternstunden-Mitschnitt: Weihnachten 1999, Herderkirche zu Weimar

Sonntag, 16. Dezember 2012, 16 Uhr
Stadtkirche St. Marien Pirna

Solisten, Kantorei und Kurrende St. Marien
Neue Elbland Philharmonie
Leitung: KMD Thomas Meyer
 

Sonnabend, 29. Dezember 2012, 16 Uhr
Stadtkirche St. Marien zu Pirna

KANTATEN IV-VI
Jana Reiner, Sopran
Silke Richter, Alt
Erik Stoklossa, Tenor
Christian Henneberg, Bass
chorus 116 e.V.
Dresdner Barockorchester
Leitung: Milko Kersten