Angeregt wurde ich zu diesem Erinnerungsvergnügen durch ein Buch. Im Sax Verlag als Nr. 4 der Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung veröffentlicht der Richard-Wagner-Verband Leipzig e.V. eine bemerkenswerte Dokumentation. Werner P. Seifert, Sänger, Musikwissenschaftler und Regisseur, legt unter dem Titel „Richard Wagner in der DDR“ den Versuch einer Bilanz vor. Im ersten Teil des Buches wird in sechs Kapiteln die widersprüchliche Rezeption eines Künstlers beschrieben, der wie kaum ein anderer mit Adolf Hitler und dessen nationalsozialistischen Verbrechen verbunden war. Noch die Nachricht vom Selbstmord Hitlers wurde am 1. Mai 1945 durch den Rundfunk mit Musik von Bruckner und Wagner zur Heldentat hochstilisiert. Der 8. Mai, so Seifert, war für die fast 50 Theaterstandorte auf dem Gebiet der späteren DDR wirklich eine Stunde null. Alles musste neu beginnen.
Aber ohne Wagner ging es eben nicht im wiederaufstrebenden Theaterbetrieb im Osten Deutschlands. In der kulturpolitischen Monatsschrift des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands wurde argumentiert, dass es nicht gerecht sei, Wagner zum „Ahnherrn des Faschismus“ zu stempeln. Fortan also, auch unter dem Einfluss sowjetischer Kulturfunktionäre, ging es darum, den Missbrauch Wagners zu entlarven – was aber nach Meinung des Autors theoretisch bleibt, denn die ersten Aufführungen unterscheiden sich im Stil kaum von denen, die es zuvor auf deutschen Opernbühnen gab. Schon vor der Gründung der DDR gab es in der Sowjetischen Besatzungszone zehn Inszenierungen von Wagner-Opern! Den Anfang machte Chemnitz am 24. Februar 1945 mit „Tannhäuser“ – im Marmorpalast, denn das Opernhaus ist noch zerstört. „Tannhäuser“ ist auch die erste Neuinszenierung in Dresden, genau zwei Monate später, im Großen Haus. Dirigent ist Joseph Keilberth, später auch Rudolf Kempe. Bernd Aldenhoff singt die Titelpartie, später auch Erich Witte. Theo Adam wird später für Heinrich Pflanzl die Partie des Bitterolf übernehmen. Christel Goltz ist die Elisabeth, Inger Karén die Venus, in nachfolgenden Aufführungen singen auch Dora Zschille und Brünhild Friedland.
Mit Gründung der DDR werden „Die Meistersinger von Nürnberg“ zur Festtagsoper. Die wieder aufgebaute Staatsoper unter den Linden in Berlin wird mit dem Werk eröffnet, auch der Prestigebau des neuen Opernhauses in Leipzig. In Dresden gibt es die Oper, glänzend besetzt, am 9. April 1950 erstmals wieder, sie wird nach fast 50 Vorstellungen 1962 wieder aufgenommen und erlebt insgesamt 85 Aufführungen bis 1974. In der neu erbauten Semperoper darf sogar erstmals Wolfgang Wagner das Werk noch im Eröffnungsjahr inszenieren.
Dieses und vieles mehr entnehme ich der gründlichen Dokumentation, die den Hauptteil des Buches ausmacht. Die Bescheidenheit vom „Versuch einer Bilanz“ zu sprechen ehrt den Autor, denn gerade diese Auflistung der Aufführungen, die gründliche Recherche, was Dirigenten, Inszenierungsteams und Besetzungen angeht, gibt Aufschluss darüber, wie stark Wagner in den Opernspielplänen der DDR vertreten war. Man wird auch erstaunt sein, dass es für internationale Stars im ewig umstrittenen Wagnerfach offensichtlich für ihre Referenzen wichtig war, wenigstens einmal als Gast in Dresden, in Leipzig und selbstverständlich an der Ostberliner Staatsoper gesungen zu haben.
Ein eigenes Kapitel wären die hochkarätig besetzten Schallplattenproduktionen westlicher Firmen etwa in Dresden mit der Staatskapelle, die man entweder gar nicht oder erst viel später dann in den Läden der DDR kaufen konnte. Zum anderen dürfte es auch interessant sein, sich anhand dieser Dokumente zu erinnern, wie es gelingen konnte, eigene Sängerinnen und Sänger für dieses Repertoire auszubilden – von denen es erstaunlicher Weise gar nicht so wenige, wenn auch in den kleineren Partien, auf den Grünen Hügel von Bayreuth geschafft haben.
Seiferts Buch ist eine Fundgrube. Also mache ich mich mal daran und gehe die Jahrgänge durch, erinnere mich an etliche selbst erlebte Aufführungen, insbesondere in Dresden, Leipzig und Berlin und versuche mein ABC der Wagnersänger zu buchstabieren. Nächsten Montag geht es los, mit A, klar mit Theo Adam, Bernd Aldenhoff zum Beispiel, und wegen ihrer ganz besonderen Beziehungen zum Jubilar des Jahres, Gabriele Auenmüller. Warum gerade sie? Sie werden sehen.
Herzlich bis Montag –
Boris Gruhl