Keine vierundzwanzig Stunden lagen zwischen den beiden Konzerten im Lichthof des Albertinums – und doch gefühlt mehrere Jahrhunderte. Nachdem die Philharmonie am Wochenende vor stilvoll ergrautem Abonnentenpublikum bei gedämpftem Licht eine Mahler-Sinfonie zelebriert hatte, wurden die strengen Stuhlreihen fix durch eine Sofa-, Hocker- und Bartischchenlandschaft ersetzt, Cocktails gemixt, ein Merchandising-Stand bot neben dem neuesten CD-Album T-Shirts und Kaffeetassen feil. Vorhang auf – nicht für einen Popstar, sondern für das MDR Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi, auf der Eintrittskarte schick firmierend als "Leipzig Radio Symphony". Eine gute Stunde spielte das Orchester, Albumlänge eben. Und nach andächtigem Schweigen der Zuhörer nach den ersten paar "Songs" – nein, Sinfonien sind die orchestral aufgerüschten Vierminüter von Sven Helbig wirklich nicht, eher klingende Short Stories – tröpfelte Zwischenapplaus. Mutiger und mutiger wurden die bierzuppelnden Loungelurche unter den farbig pulsierenden Videovorhängen von Philipp Geist, und schufen sich ihre eigene, der Popwelt entlehnte Dramaturgie. Die Aura zurückhaltender, romantisch verglühender Stücke wurde nicht durch Applaus gestört; schnelle und laute Songs dafür um so leidenschaftlicher beklatscht und betrampelt. Tatsächlich hätte weiterer Szenenapplaus für die kammermusikalischen Einsprengsel, die das Fauré Quartett aseptisch sauber darbot, in dieser spontan sich wandelnden, die Grenzen zwischen Orchester und Publikum verwischenden Szenerie nicht gestört.
Müßig ist daher in gewisser Weise die Diskussion, die den Abend lang unter klassisch geprägten Zuhörern hin- und herwisperte: ob das nicht nur Filmmusikschnipsel seien, affektheischend, fast kitschig in der Wahl der instrumentalen Mittel; auch das Fazit, dass Sven Helbig zwar ein brillanter Arrangeur, ein Orchesterklang-Hexenmeister sei, es ihm aber an einem Personalstil, an genuinen Ideen doch mangle (und die sind nun mal die harte Währung der Klassikwelt). Denn der Abend hat eine viel wichtigere Diskussion neu belebt: wie erreiche ich heute mit einem klassischen Sinfonieorchester ein neues Publikum? Wie schaffe ich zeitgenössische Kunsterlebnisse, von denen das Publikum nicht geschüttelt, sondern gerührt ist; wie mache ich neugierig, binde Hörer? Warum nicht einmal Werke von Erich Wolfgang Korngold, John Adams oder – ja! – Torsten Rasch in dieser Art zelebrieren? Vorwärts, Philharmonie; und danke, Sven Helbig, für den wichtigen Denkanstoß.
Eine Textfassung des Artikels ist am 27. Februar in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.