Käthe Pingel? Nie gehört, sicher. Aber für mich war sie eine der ersten Sängerinnen, an die ich mich erinnere. Sie war die Hexe in »Hänsel und Gretel«, als ich im Eberswalder Westend-Kino als Schüler der siebten Klasse 1960 mein erstes Opernerlebnis hatte. Das war ein Gastspiel des Kleist-Theaters aus Frankfurt/Oder, später dann, sang im Frankfurter „Stammhaus“ Käthe Pingel die Mary in »Der Fliegende Holländer«. Fast 20 Jahre später dann, sie hatte längst als Sängerin aufgehört, sie war eine geschätzte Souffleuse, da holte man sie noch einmal auf die Bühne. In der Frankfurter Aufführung des seinerzeit brisanten Stückes »Jutta oder die Kinder von Damutz«, spielte sie an der Seite von Gitta Schweihöfer und Johanna Schall, eine alte Frau, und sie sang, aus der »Winterreise«, „Am Brunnen vor dem Tore“, das hat mich berührt, das ist als Bild und Ton abgespeichert, auch jetzt noch, fast 35 Jahre später.
Unvergessen sind Abende in Berlin und Dresden mit der so kraftvollen, volltönenden und spielfreudigen Altistin Brigitte Pfretschner, als Magdalena oder Mary, in »Die Meistersinger von Nürnberg« und »Der Fliegende Holländer« an beiden Opernhäusern zu Beginn der 60er Jahre, auch als Brangäne im alten Dresdner Tristan, der ja noch bis zu Beginn der 70er Jahre im Großen Haus gespielt wurde habe ich sie gehört und strak in der Erinnerung ist ihre energische Fricka in »Die Walküre«, in der Inszenierung von Dieter Bülter-Marell, die bis Mitte der 70er Jahre im Repertoire war. Ebenfalls eine Altistin, aber mit hellerem Timbre, war Gertraud Prenzlow, an der Berliner Staatsoper, ich habe sie nur einmal in einer Wagneroper gehört, es war die Premiere »Der Fliegende Holländer«, 1968, sie sang die Mary, Senta war Liane Synek, der Holländer Theo Adam, Kurt Moll sang den Daland, Martin Ritzmann den Erik. Ja, in Dresden hat sie auch gesungen, mehrmals, ihre große Premiere hatte sie als Kundry in »Parsifal«, 1988, Inszenierung Theo Adam, lange im Spielplan auf der Bühne der Semperoper. Da war sie längst ein Star und international unterwegs, als Brangäne, als Ortrud, als Venus, als Waltraute oder als Fricka, sie sang etliche dieser Partien auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, sie gastierte überall dort, wo man gewesen sein muss um mit Fug und Recht als Wagnersängerin anerkannt zu sein. Alles begann 1970, in Weimar, Harry Kupfer war auf Uta Priew aufmerksam geworden, sie sang die Partie der Mariutka in »Der letzte Schuss« von Siegfried Matthus, ein damals viel gespieltes Werk in der DDR, 1967 in Berlin uraufgeführt, Libretto von Götz Friedrich nach einer sowjetischen Novelle, in der es um die Orientierungen der Menschen in der nachrevolutionären Zeit geht. Matthus hatte gerade für die weibliche Hauptpartie berührende Passagen geschrieben, von der Weimarer Aufführung, insbesondere von Uta Priew, wurde viel gesprochen.
Ich habe Uta Priew erstmals als Mary in einer Weimarer Premiere „Der Fliegende Holländer“ erlebt, und dann eben immer wieder, und es war – die Erinnerung – immer wieder klingende Überraschung, eine grandiose Sängerdarstellerin. Übrigens hatte ich auch das Glück sie ganz „artfremd“ zu erleben, als Boulotte in Walter Felsensteins berühmter Offenbachinszenierung »Ritter Blaubart«, an die 100 mal hat sie diese Paradepartie seit 1983 als Nachfolgerein von Anny Schlemm gesungen und vor allem gespielt. Und irgendwie, in der Erinnerung will es so scheinen, Uta Priew war eben wie Anny Schlemm so eine bedingungslose Vollblutsängerin, es musste nicht alles „schön“ sein, aber authentisch, saftig und herzhaft auch, wenn es sein musste. Damit soll nicht gesagt sein, dass man auf herrliche Gesangslinien verzichten musste, im Gegenteil, ihre warnenden Rufe als Brangäne im nächtlichen Bild des zweiten Aufzug von Wagners „Tristan und Isolde“ kann man nicht vergessen. Wer es hören und sehen möchte, in einem Mittschnitt von den Bayreuther Festspielen aus dem Jahre 1995, der auf DVD erschienen ist, singt sie ihre Partie an der Seite von Waltraud Meier und Siegfried Jerusalem in den Titelpartien. Am Pult Daniel Barenboim, Inszenierung Heiner Müller, im Bühnenbild von Erich Wonder. Heute gibt sie als Professorin an der Berliner Hochschule Hanns Eisler ihre Kenntnisse und Erfahrungen weiter.
Es war ein Ereignis in Dresden, 1985, kurz vor Weihnachten, am 12. Dezember, in der am 13. Februar dieses Jahres wieder eröffneten Semperoper. »Die Meistersinger von Nürnberg«, in der Inszenierung und im Bühnenbild von Wolfgang Wagner (1919 – 2010), Enkel von Richard Wagner, Urenkel von Franz Liszt, Leiter der Bayreuther Festspiele der erstmals im „Osten“ arbeitete. Wagners eigene Regiearbeiten, im Gegensatz zu denen seines Bruders Wieland, der schon 1966 verstorben war und als Erneuerer der Bayreuther Traditionen gilt, gelten als konservativ, dies aber was sie Bildkraft seiner Arbeiten angeht, durchaus in einem positiven Sinn. Seine eigenen ästhetischen Ansichten hielten ihn aber nicht davon ab Regisseure nach Bayreuth zu holen, von denen er wusste, dass deren Stil sich auf jeden Fall von seiner Art einer historisierenden „Werktreue“ unterscheiden würde. Er holte Patrice Chéreau (1944-2013) für den sogenannten „Jahrhundertring“ anlässlich des 100jährigen Bestehens der Festspiele 1976, Harry Kupfer inszenierte unter seinem Schutz gegen mancherlei Anfeindungen 1978 als einer aus dem „Osten“ »Der Fliegende Holländer«, der US-amerikanische Sänger Simon Estes war in dieser Inszenierung zugleich der erste „schwarze“ Holländer. Zehn Jahre später ließ er Kupfer Wagners Ring inszenieren. Er vertraute Heiner Müller „Tristan und Isolde“ an und ließ Christoph Schlingensief das Bühnenweihfestspiel »Parsifal« performativ und interreligiös organisieren.
Zurück nach Dresden, 1985, im Dezember, in der Semperoper. Wolfgang Wagner beglückte die Dresdner und ihre Gäste mit seinem farbenfrohen Märchenmittelalter und besonderen Eindruck machte das Bild der Festwiese mit der mächtigen fränkischen Tanzlinde. Dabei war die Idee mit dem Baum ja nicht neu, Harry Kupfer hatte schon 1981, bei seiner Antrittsinszenierung als Chef der Berliner Komischen Oper, bei der überhaupt ersten Wagneroper an diesem Theater, einen Baum auf die Bühne gestellt, allerdings für alle drei Aufzüge seiner so heiteren wie melancholischen Sicht auf die mannigfaltigen Verirrungen der menschlichen Natur nach der Vertreibung aus dem Paradies. Er besetzte auch einige der Lehrbuben mit Countertenören, und so kam ein Sänger wie Jochen Kowalski, damals noch Student, zu seiner einzigen „Wagnerpartie“.
Wolfgang Wagners Dresdner »Meistersinger« bedeuteten für einen großen Teil die Erfüllung lang gehegter Wünsche, so sollte es sein im geliebten Opernhaus, die optische Pracht und die „Fülle des Wohllauts“. Was die Optik anging gab es auch Kritik, einig aber war man sich, was die musikalische Seite dieser Aufführung unter der Leitung von Siegfried Kurz anging, so muss es sein. Die besondere Zugabe für die Dresdner am Premierenabend war die Sopranistin Lucia Popp als Eva. Die 1939 in der Slowakei geborene und leider schon 1993 in München verstorbene Sängerin gehörte zu den angesehensten Vertreterinnen des lyrischen Sopranfaches und war eine ausgezeichnete Liedinterpretin, von Mahlers »Des Knaben Wunderhorn« gibt es drei Einspielungen, die Entscheidung, welcher man den Vorzug gibt fällt schwer, ebenso bei ihren beiden Aufnahmen »Vier letzte Lieder« von Richard Strauss, einmal unter Klaus Tennstedt, einmal unter Michael Tilson Thomas. Von Wagner hat sie nur die Eva in den »Meistersingern« und die Elisabeth in »Tannhäuser« gesungen. Es gibt eine Tannhäuser-Aufnahme mit ihr von 1985 unter Bernard Heitink bei der EMI, edel besetzt mit Klaus König, Kurt Moll, Bernd Weikl und Waltraud Meier.
Aber live ist live, und wer damals in Dresden dabei war, der wird sich erinnern, wie herrlich und edel der Klang, wenn sie ihre Stimme in der leicht klingenden Höhe aufleuchten ließ, etwa im Quintett, „Selig wie die Sonne …“, das sind Erinnerungen mit Gänsehauteffekt. Lucia Popp hatte ihre Karriere als Mozartsängerin begonnen, sie war die Königin der Nacht, und die gestrenge Elisabeth Schwarzkopf soll 1963 bei einer Aufnahme unter Otto Klemperer in Wien ausgerufen haben: „Sie sind ein Wundertier“. Lucia Popp in Dresden, 1985 in der Semperoper, eine wunderbare Erinnerung.
Und noch eine Erinnerung beim Buchstaben „P“ meines Wagner-Alphabets. Keine Sängerin, eine Schauspielerin; wer sie gesehen hat, wird sich erinnern. Es waren die Augen der Anna Prucnal als Senta in der DEFA-Verfilmung »Der Fliegende Holländer« von Joachim Herz aus dem Jahre 1964. Gesungen hat die Partie Gerda Hannemann, den Holländer spielte Fred Düren, der Sänger war Rainer Lüdecke. Sentas Traumvisionen spiegelten sich in den ausdrucksvollen Blicken dieser zarten Schauspielerin aus Polen, und dürften etliche spätere Opernregisseure beeinflusst haben. Anna Prucnal drehte bei der DEFA weitere Filme, »Reise ins Ehebett« oder »Wege übers Land« und »Unterwegs zu Lenin«. 1974 musste sie Polen verlassen, Grund war der Film »Sweet Movie« des jugoslawischen Regisseurs Dusan Makavejew. Anna Prucnal ging nach Paris, Federico Fellini wurde auf sie aufmerksam, sie spielte in seinem berühmten Film »Die Stadt der Frauen«. In Frankreich besann sie sich auf Ihre Anfänge, sie hatte in Warschau Musik studiert und begann eine Karriere als Chansonsängerin und kam so doch noch als Sängerin um die Welt. 1989 durfte sie auch wieder nach Polen, ganz prominent, Francois Mitterand lud sie zusammen mit Françoise Sagan ein, ihn auf seinem Staatsbesuch zu begleiten.
Leider ist mir bislang nicht bekannt, dass es im Rahmen des Wagnerjahres 2013 Aufführungen des Film »Der Fliegende Holländer« gibt.
Es geht weiter mit den Buchstaben „Q“ und „R“, die Auswahl ist übersichtlich, beim „Q“ ist es nur Annemarie Queck, beim „R“ kommen die Erinnerungen reichlicher, Kurt Rehm, Renate Frank-Reinecke, Rudolf Riemer, unbedingt Martin Ritzmann, Elisabeth Rose, Kurt Rösinger, Wolfgang Ruhl und Konrad Rupf.
Bis dann, bis bald, herzlich, Boris Gruhl
"Der Fliegende Holländer", DDR 1964, 98 Minuten, Schwarzweiß, 4-Kanal-Ton, Icestorm Entertainment, 10 Euro