Mario Schröder ist als Ballettdirektor und Chefchoreograf an die Oper Leipzig zurückgekehrt, dorthin, wo er einst als Erster Solist Schlagzeilen machte. Er sei ein Kind des Leipziger Balletts und nun sei dieses Ballett zu seinem Kind geworden, meinte er kurz vor der Premiere von „Pax 2013“. Damit erinnerte der 1965 in Finsterwalde geborene Tänzer, der seine Ausbildung unter anderem an der Palucca-Hochschule in Dresden erhielt, zunächst einmal an Uwe Scholz, seinem Vorvorgänger, der 2004 mit nur 45 Jahren verstarb. Zugleich realisierte Schröder eine Würdigung des im Oktober diesen Jahres siebzig Jahre alt gewordenen Komponisten Udo Zimmermann.
Was da mit großer Spannung erwartet worden ist und alsbald heftig gefeiert wurde, war nicht weniger als die Kopplung einer choreografischen Uraufführung mit der Rekonstruktion eines tänzerischen Meilensteins. 1992 brachte Uwe Scholz, der von 1991 bis zu seinem Tod als Ballettchef in Leipzig wirkte, das erste für diese Stadt choreografierte Werk heraus. „Pax questuosa“ war als mahnendes Zeitbild unmittelbar mit den Geschehnissen des gesellschaftlichen Wandels verbunden, ein Aufschwung auch für das Leipziger Ballett, und brachte die mit der sogenannten Wende verbundenen Hoffnungen ebenso auf die Bühne wie die ersten Enttäuschungen in Form von Fremdenfeindlichkeit, Kleingeist und Existenzangst. Die 1982 als Auftragswerk der Berliner Philharmoniker entstandene Komposition „Pax questuosa“ (dt. „Der klagende Friede“) wurde zunächst mit Wagners „Tannhäuser“-Vorspiel, später mit der Lutoslawski-Hommage „Dans la marche“ kombiniert, so das ein kompletter Scholz-Zimmermann-Abend daraus wurde.
Mario Schröder hat in der jüngsten Produktion des Leipziger Balletts darauf zurückgegriffen, der Rekonstruktion von Scholzens „Pax questuosa“ jedoch die Uraufführung eines eigenen Balletts vorangestellt. Unter dem Titel „Blühende Landschaft“ schuf er zu Udo Zimmermanns Cellokonzert „Lieder von einer Insel“ einen hintersinnigen Kommentar zum ködernden Versprechen eines einstigen Bundeskanzlers. Da stehen haufenweise Schuhe auf der nackten Bühne, im Hintergrund Ansichten Leipziger Demonstrationswege von 1989 sowie Straßenkehrer, die ihrer ureigenen Aufgabe nachkommen. Hinweg, hinweg? Nein, die Aussage zielt tiefer, zumal das Zimmermann-Konzert mit Ausschnitten aus Bach-Kompositionen kombiniert wurde. Es ist eine beklemmende Szenenfolge zwischen Ankunft und Aufbruch, aus Glauben und Hoffen, die sich der Choreograf in der eindrucksvollen Ausstattung von Andreas Auerbach und Paul Zoller hat einfallen lassen. Das überaus konzentriert wirkende Ballettensemble dürfte in dieser künstlerischen Auseinandersetzung wohl erstmals mit dem historischen Geschehen konfrontiert worden sein – es überzeugte mit großem Engagement und Leistungskraft.
Mario Schröder zu „Pax 2013“: „Interessant wird es, diesen Bezug jetzt neu zu sehen. Die Angst vor einer Apokalypse, die ja durchaus gegeben ist, die hat sich doch nicht verändert. Diese Zukunftsängste sind immer noch da und werden auch bleiben. Aber die Welt ein bisschen besser zu machen mit dem, was wir kreieren, das ist die Hoffnung, die dahintersteht.“
Im zweiten Teil, der Rekonstruktion von „Pax questuosa“, kamen schlagartig Erinnerungen an die ursprüngliche Produktion hervor, an eine Zeit zersplitternder Illusionen, denn auf den friedlichen Wendeherbst folgen alsbald die Kriege am Golf und in Jugoslawien. Einzelne Bebilderungen sind wohl nachträglich aktualisiert worden, ansonsten blieb der Abend bis ins Detail original Scholz. Wobei auffiel, dass die technische Prägnanz, auf die dieser Perfektionist so großen Wert gelegt hatte, in der Wiederauflage mit komplett neuem Ensemble etwas verlorenging. Ebenso markant die offenbar gewachsene Lust des Gewandhausorchesters, auch in Ballettvorstellungen Konzertqualitäten unter Beweis zu stellen. Anthony Bramall am Pult forderte höchsten Einsatz sowohl im Interesse der Werke als auch im Einklang mit dem Bühnengeschehen.
Mario Schröder wollte die Arbeit von Uwe Scholz nicht konservieren, sondern in den neuen Kontext der „Blühenden Landschaft“ stellen. Damit hat sich ebenso der Blick auf „Pax questuosa“ verändert. Und zudem hat man die Musik Udo Zimmermanns in einem anderen Kontext gehört. Unverkennbar war „Pax“ das stärkere Stück, gerieten die „Lieder von einer Insel“ (Solist im Cellokonzert: Christian Giger) in dieser unmittelbaren Konfrontation zu einem nonchalanten Nachwehen.
Ebenso war nicht zu übersehen, wie gerührt der Komponist den Beifall von den Mitwirkenden auf der Bühne sowie aus dem Publikum entgegennahm. An dieser Stelle hat er Musiktheatergeschichte geschrieben. Und offenbar reichlich Lebenskraft investiert. »Pax 2013« vereint etwas Zeitloses, steht für Reflexion und Hoffen, ist dennoch zeitgenössisch heutig und somit unbedingt empfehlenswert.