Wenn einer der Großen Meister stirbt, ist schnell die Rede von der Ausnahmegestalt. Wie also soll man verfahren, wenn ein wirklicher Charismatiker gegangen ist, eine Einzelerscheinung, ein unverwechselbares Genie? Da hilft kein Griff zu den Sternen, zumal als Star heute schon gilt, wessen Name nur dreimal von einem Sternchen im Fernsehen genannt worden ist.
Claudio Abbado, der am Montag mit seinen achtzig Jahren in Bologna verstorben ist, war in diesem Sinne alles andere als ein Star. Eine musikalische Ausnahmegestalt allerdings, das war er durch und durch, sein Leben lang. Obwohl er noch der Generation zahlreicher diktatorischer Pultheroen entstammt, machte er sich mit ihnen keineswegs gemein. Er war ein italienischer Arbeiter, der sein Wirken ganz und gar in den Dienst der Musik gestellt hat. Das war die Basis, auf der er Klangbilder schuf, die komplett auf dem Geist der Musik fußen und dadurch in größter Nähe zum Ideal tönten. Mehr als Abbados eher rare Aufnahmen vermittelten diesen oft atemberaubenden Eindruck vor allem seine Live-Konzerte. Die waren gründlich schürfende Auseinandersetzung mit Partituren und Interpreten, vorangegangen war ihnen stets eine aufklärende Probenarbeit. Aufklärend im Sinne von Lernprozess, um genau hinzuhören: Was steht in den Noten, wie setze ich das jetzt um, wie macht das mein Pultnachbar und wie korrespondiert meine Stimmgruppe mit dem Rest des Orchesters?
Dieses Erhellen sowohl der vermeintlich klassischen als auch der sogenannt neuen Musik übertrug sich verlässlich aufs Publikum, das sich im günstigsten Fall nicht zurücklehnte, sondern fasziniert lauschte, von der Einmaligkeit des eben erlebten Klangbildes gebannt war. „Ascolta!“ rief Abbado in Proben seinen Musikern zu. Es war ein Abverlangen des gründlichen Zuhörens, das um der Sache willen nicht verloren gehen darf.
Der 1933 in Mailand geborene Musikersohn, der von Kindesbeinen an auch ausübend mit Musik verbunden war, er hat diese lebendig durchdachte Haltung vielen vermittelt, die mit ihm arbeiten durften. Neben all den großen Orchestern der Welt, denen er in Chefpositionen und als Gastdirigent verbunden war – darunter die Wiener Philharmoniker, das London Symphony Orchestra, das Orchester der Mailänder Scala, das Chicago Symphony Orchestra sowie die Berliner Philharmoniker – sind es vor allem die zahlreichen Neugründungen gewesen, die Claudio Abbado wie kein anderer Dirigent neben ihm vorantrieb. 1978 das European Community Youth Orchestra, acht Jahre später das Gustav-Mahler-Jugendorchester, kurz darauf dann das Festival Wien Modern, 1997 das Mahler Chamber Orchestra, 2003 das Lucerne Festival Orchestra – wer solche Früchte hinterlässt, der ist durch und durch von der Kraft der Kultur überzeugt.
Auch wenn Abbado lebenslang viel unterwegs war, sozusagen ein Anti-Maestro, der sich dem Dirigiergehabe des Jetset nie hingegeben hat – in Dresden muss er rückblickend als Rarität gelten. Zu einer Schallplattenaufnahme mit der Sächsischen Staatskapelle kam er in den 70er Jahren an die Elbe, mit dem Scala-Orchester konzertierte er bei den Musikfestspielen 1981, im kommenden Frühsommer sollte er erneut hier gastieren. Traurig, dass daraus nun nichts mehr wird. Und dennoch hat er hier kräftige Spuren hinterlassen, hat für lautstarke Klangspuren gesorgt. Einstige Mitglieder des Gustav-Mahler-Jugendorchesters musizieren heute sowohl bei der Dresdner Philharmonie als auch in der Sächsischen Staatskapelle, das Eröffnungskonzert jeder neuen Orchestersaison in der Semperoper wird von diesem namhaften Klangkörper bestritten.
Ein Weltbürger der Musik, der nicht wenige der sogenannten Lichtgestalten in den dunkelsten Schatten stellt, er ist gegangen. Die Welt der Musik tritt sein Erbe an. Neben einem schillernden Strauss voller Erinnerungen ist dies auch der Wunsch, Zuhören als nie endende Aufgabe zu begreifen. Ascolta!