„Es war so richtig, es war so falsch. Du kannst jetzt loslassen. Irgendwie habe ich die Zeit gebraucht. Ich stehe hier, und von hier aus sieht die Welt perfekt aus.“ tönen die ersten Zeilen des Abends. Zart getupft, gehaucht, immer wieder mit vollem Stimmklang . Und doch so einfühlsam und entspannend. Vielseitig. Sowohl im Text als auch im Gesang spürt man eine mit Melancholie gewürzte Befreiung, Widersprüche, Erinnerungen an unsagbaren Schmerz, und doch gleichzeitig die komplette Losmachung. Sie artikuliert auch die Offenheit für das was bevorsteht, eine Freude. Alles in einem Song. „Ich kann jetzt loslassen.“
Wie es ihr auf der aktuellen CD gelungen ist, lebt Viktoria Tolstoy mit Jacob Karlzon auch in Dresden im fast zweistündigen Livekonzert aus, was sie unter Kunst zu zweit versteht. Ihr Ehemann beobachtet sie vom Klavier aus, und reagiert in der Begleitung auf jeden neuen Impuls, den Viktoria Tolstoy ihm gibt. Meisterlich nuanciert sie die gesanglichen Phrasen bis in die Details aus, webt ihren roten Faden und nimmt den Zuhörer mit auf eine von wenigen Ansagen unterbrochene Reise in ihre Musik. Die kunstvoll ausgeführten Covers sprechen dabei für sich selbst. In „Deep River“ hört man in der Klavierbegleitung von Jacob Karlzon die tausenden Regentropfen und Tränen fließen, spürt die Tiefe des Meeres, in welche sie hinein gewaschen werden. Gemeinsam treiben der Gesang und die pulsierenden, atmosphärischen Klaviersolos in diesem Strom mit – ein wunderbares Erlebnis. Das Genesis-Cover „You´re Taking it All Too Hard“ bekommt unter Tolstoy und Karlzon endlich die klangliche Tiefe, die der Song verdient hat. Viktorias reife Stimme verleiht ihm eine persönliche Note. Ihre eindrucksvolle Interpretation geht direkt unter die Haut.
Von Phil Collins borgten sich die beiden Schweden das vor genau 30 Jahren veröffentlichte „Against all Odds“, welches, wäre der gleich betitelte Film nicht gewesen, von Anfang an „Take A Look At Me Now“ hätte heißen müssen. Mit einem hellen, leichten und fragilen Ausdruck entwindet sich die Neuinterpretation von Viktoria Tolstoy befreiend aus der dem Song innewohnenden Verzweiflung, und schiebt den Fokus auf den fast schwerelos ausklingenden Hoffnungsschimmer. Diese neue Gewichtung gibt dem Lied eine ganz eigene Ausstrahlung.
Viktoria Tolstoy hat bei der Repertoirewahl auch tief in das Great American Songbook hinein gegriffen. Das dunkel gehaltene „I Concentrate On You“ von Cole Porter entwickelt zwischen Tolstoy und Karlzon eine fast brodelnde, düstere Eigendynamik, die durch den Gesang dennoch wieder und wieder aufblühen darf. Selbst eingeschworene Tolstoy-Fans erkannten sie nicht gleich: mit „Butterfly“ und „Trust Me“ kamen zwei Stücke von Herbie Hancock zum Klingen, die auf Viktorias sechstem Album „Letters to Herbie“ veröffentlicht wurden. Mal nicht mit Band, und umso schöner! Auch das „Shining on You“ von ihrer ersten in Deutschland veröffentlichten, gleichnamigen Platte erklang so schön wie vor genau zehn Jahren, als sie damit den Deutschen Jazz-Award abräumte.
Mit „A Moment of Now“ erklingt ein herausragendes Stück. Das die neue Platte betitelnde Liebeslied rundet nicht nur das frische Material musikalisch ab. Auch könnte es nicht besser auf die beiden, miteinander verheirateten Musiker passen. Es besticht durch einen bezaubernd charmanten Liedtext von Tolstoys Freundin Anna Alerstedt. „Wenn du mich ansiehst, weiß ich: du bist ein Teil von mir. Nicht ein Bild, sondern das Herz. – Wenn du mich anlächelst, […] sehe ich die Ewigkeit. Das ist jetzt, die Ewigkeit ist jetzt. Alles was wir haben, alles was wir brauchen, ist jetzt.“
Durch die Begleitung von Jacob Karlzon erwächst die von Pet Metheny komponierte Musik aus dem Moment heraus, ohne sich dabei irgendwo anders hinzuwünschen. Ganz zum Inhalt des Songs passend, wirken die Melodien im Klavier gleichzeitig simpel und bodenständig. Jacob Karlzon gelingt es, Musik und Text einen Rahmen zu geben, bei dem er seine Spielweise komplett unter die Aussage des Stückes gestellt hat. Man spürt regelrecht, wie er sich zurückhält, und wie genau diese Spannung zu einem Teil der Neuinterpretation wird.
Doch Karlzon weiß auch aufzubrausen. Mit den Dynamiken, die er aufbaut, spannt er einen Rahmen um die Einsätze von Tolstoy. Seine Soli leben nicht durch ein bestimmtes Tonmaterial oder aufmerksamkeitsheischende Phrasierungen, sondern durch das Erleben von einem gefühlvollen Anschwellen und Aufbrodeln, Verharren und Verstummen. Sein Stil zieht sich durch alle Songs und das gesamte Konzert, wenn dieser auch live besser zur Geltung kommt als auf der CD. Gepaart mit den wenigen Ansagen von Tolstoy überbrückt der Flügel auch oft die Verlegenheitslücken zwischen den Stücken, und transportiert das Material von der gerade gehörten in die als nächstes kommende Komposition. Und dabei lässt sich Karlzon Zeit. Dieser erfrischende Umgang mit dem musikalischen Material stellte nicht nur die Musik in den Vordergrund. Er kam beim Publikum sehr gut an.
Wo auf der CD Percussions verwendet sind, übernimmt Karlzon sie live in sein Spiel. Peter Gabriels „Red Rain“ ist ein solcher Song, wo man nach dem Hören das Gefühl hat, dass Tolstoy mit mehr als nur einem Pianisten auf der Bühne steht. Die beiden bewegen sich stets zwischen den zwei Welten des roten Regens, dem Jetzt und der Zukunft, der Angst und dem Vertrauen. Das Klavier klingt mal zart und unscheinbar, gleich darauf hämmernd-perkussiv, und auch die Stimme variiert mit den Intensitäten. Live übrigens überzeugender als auf dem Album.
Als Hörer identifiziert man Viktoria Tolstoy nicht am gesungenen Material, sondern an der in einem unverwechselbaren Stimmklang begründeten Gesangskunst. Und diese scheint sich auf „A Moment of Now“ endlich zu befreien, und sich zu entfalten. Die Art und Weise, wie sie in Töne hineingeht, ihre vom Kehlkopf mitgesteuerte Vibratotechnik, wie sie aktiv und vielseitig mit einer schillernden Verdichtung des Tonklanges arbeitet und dadurch eine einzigartige Tragfähigkeit in jedes neue Lied hineinbringt – all das fasziniert mich. Und macht die Sängerin unabhängig von Stilistik und Liedmaterial stets wiedererkennbar. Im neuen Repertoire erklingt ihre Stimme unverkrampfter. Sie öffnet Tiefen wie auch Höhen mehr, und erzielt dadurch noch packendere Effekte als je zuvor. Die rauchig-hauchigen Passagen ziehen den Hörer in ihre Welt hinein, und die gut dosierten Powerstellen treiben diese Emotionen zur nie unvorbereitet explodierenden Extase – was für ein Erlebnis!