»Zehn mal wir selbst….und plötzlich habe ich mich gefunden« – so das Motto des Abends im Hellerauer Festspielhaus. Man kann nicht sagen, dass sich alle Arbeiten gleichen, aber zumindest neun von zehn Choreografinnen und Choreografen wollen auch kleine Geschichten erzählen, und vertrauen in einigen Fällen dabei nicht allein auf die Kraft des körperlichen Ausdrucks, sondern meinen, der Worte zu bedürfen, der Hinweise durch Zuspielungen von Videosequenzen und Beleuchtungsvarianten, die sich dann doch auch wieder gleichen. Beliebt sind ausgeleuchtete Quadrate oder Rechtecke auf dem Tanzboden der großen Bühne; Ted Meier hat den jungen Künstlerinnen und Künstlern auch jeden Wunsch erfüllt, Tony Scholz sorgt zuverlässig für den guten Ton.
Dass der Tanz ihre Sache ist und nicht die Belehrung des Publikums, bringt Francesca Ammaturo überzeugend in ihrer Choreografie »Negative Existence« zum Ausdruck. Gemeinsam mit Marin Delavaud tanzt sie ein neoklassisches Duett; beide lassen Gespür für die Kunst des Pas de deux nicht vermissen. Hätten sie zudem auf die minimalen Lichteffekte in Schwarzlichtmanier verzichtet, man hätte nichts vermisst. Die zugespielte Musik von Arvo Pärt ist scheinbar unverzichtbar geworden in der Tanzszene, sie stört ja nicht. Xenia Füger tanzt ihr Solo »Ansichtssache«, Simon Wiener spielt seine Komposition dazu für Violine solo. Da von Beginn an ein Aquarium mitten auf der Tanzfläche steht, macht sich die Tänzerin wie zu erwarten nass. Dass sie nicht ins Wasser geht, sondern lediglich ihren Rock ertränkt, führt dazu, dass die Bühnenarbeiter gehörige Nacharbeit zu leisten haben und ihre Nachfolger immer noch ins Rutschen kommen. Die Nachfolger sind Anton Shults und Toni Köhler in ihrer Tanzvariante des Themas vom Prinzen und dem Bettlerknaben. Shults Choreografie nutzt lustvoll die Traditionen der Tanzpantomime, lässt Bilder von Reichtum und Armut via Video so vehement wie drohend hinzu spielen und genau dann, wenn das soziale Gewissen überlaut zu schlagen beginnt, einen gerechten Blitz vom Himmel geradewegs herunterfahren, eben „We all walk under god“. Im Wechselspiel der quadratischen Lichtflächen könnte man das Duett von Ellénore Abraham, das sie zusammen mit Seth Buckley tanzt, für ein Liebesduett mit notwendigem Wechsel der Perspektiven halten, um der Gefahr zu entgehen, sich vom anderen ein Bildnis zu machen und selbst unter der eigenen Maske das eigene Gesicht zu verlieren. Mit offenen Gesichtern und wenn es sein muss auch mit weit geöffneten Mündern und flotter Zunge und in ihren Streittiraden der Alltäglichkeit, dazu mit flotten und mitreißenden Tanzpassagen, die man mit Lust und Freude sieht, sorgt Violeta Wulff Mena in ihrer Choreografie »Color Carmins« mit Alexei Bernard zu Musik von Xavier Cugat für ein fröhliches Pausenfinale.
Es geht weiter im Freien, auf hartem Steinboden vor dem Portal des Festspielhauses und es geht kräftig zur Sache in der Performance »My scars« von Lars Reinschmidt. Mag sein, dass der kraftvolle Performer etliche Narben davon trägt, denn er schont sich nicht im durch eine Tür getrennten, harten Kampf um Nähe und Distanz mit seiner ebenso mutigen Partnerin Xenja Füger. Tim Leonard interpretiert dazu mit Gespür für Rhythmus und Musikalität Texte des schwarzen Poetry-Künstlers Rudy Francisco, in denen das Thema Liebe, Vergänglichkeit, Verletzungen und der Gedanke, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, in lyrischen Sprach-Tänzen die harten Bewegungsrisiken der selbstlosen Performer antreibt. Weiter im Saal. Alexander Bolk macht in seiner Arbeit einen Erinnerungstrip in die Kindheit, „Wie der…,so der…? Zwischen Aufstieg und Ausstieg“. Er bezieht sich auf einen Satz aus Franz Kafkas „Brief an den Vater“ und tanzt mit Anton Shults in der Rolle des so korrekten wie übermächtigen Vaters den Versuch des kindlichen Widerstandes. Er wird vom Vater erst in den aufrechten Gang, dann in die Hosen und ins Hemd gezwungen und es geht seinen Gang in Richtung Tanztheater der authentischen Art. In »Jein« nutzt Anne Maria Wolff in Sichtausschnitten die Galerien der Bühnenrückwand des Theaters und bringt eine unbestimmte Sehsucht zum Klingen, die sie zum Mann auf dem Balkon über dem ihrem sendet. Wenn sie und Seth Buckley auf dem Boden der Tatsachen sind und es darum geht durch eine Tür zueinander zu kommen, beginnt das Spiel um Ja oder Nein. Es endet nach einem Solo der einsamen Tänzerin in der so unentschiedenen wie nicht aufzulösenden „Jein“-Situation. Und ganz langsam heben sich die jugendlichen Zeigefinger, da ist die Sprache anstelle des Tanzes nicht fern. So fragt Anne Maria Wolff »Fürchtest du, was ich fürchte?«, und lässt Chiara Detscher als eine Art Doppelgängerin mit ihr dazu agieren. Leider traut sie in dieser an sich interessanten Konstellation den Möglichkeiten des Tanzes nicht ausreichend und es gibt einen Erörterungssermon, dessen wiederholte Einleitung, „Es interessiert mich nicht, was….“ sich als sprachliche Tanzbremse erweist.
Finale. »Wechselwirkung« heißt die abschließende Arbeit von Anne Hubert, die sie mit Anton Shults präsentiert. Anne und Anton, so stellen sie sich mit Namensschildern vor, führen jeweils etwas vor, eine Art Pantomime, und es hat den Anschein als sollten wir raten, was sie meinen. Oder macht hier jeder das Seine, und die Choreografin will erforschen, was sie dennoch verbindet und wie sie einander beeinflussen? Das geht ganz gut, vor allem auch ohne Musik, zumal man sich mitunter schon fragen mochte, wie diese oder jene Musik zum Tanz kam, oder wie der Tanz zu dieser oder jener Musik kam. Eine wirkliche musikalische Herausforderung war nicht zu vernehmen. Dafür am Ende langer, herzlicher und zustimmender Applaus, viel Jubel in der Solidargemeinschaft derer, die es geschafft haben und derer, die in den kommenden Jahr zeigen werden, was sie bewegt und uns bewegen sollte.