Ich muss immer mal wieder sehen und hören, wie es anderswo auf den Opern- und Ballettbühnen zugeht. Zugegeben, nach Polen reise ich besonders gerne, und in einer Stadt wie Poznan fühle ich mich sehr wohl. Renata Borowska-Juszcynska heißt die neue Intendantin am Teatr Wielki; eine junge Frau, deren erste Saison bald zu Ende geht. Man kann es programmatisch verstehen, dass Sie jetzt mit Bizets Oper »Carmen« einen Publikumsrenner ins Repertoire nimmt und es gleichzeitig wagt, dem eher traditionell orientierten Publikum eine recht zeitgemäße Inszenierung anzubieten.
Freunde in Poznan waren sich nicht sicher, ob das Publikum mitmachen würde, ob es bereit sei, gerade bei diesem Werk von Vorstellungen darüber, wie eine Carmen auszusehen habe, abzurücken und sich auf eine neue Sicht einzulassen. Das hat am Premierenabend prächtig funktioniert, pure Begeisterung für die musikalische Seite, nicht weniger freudig wurde das Inszenierungsteam begrüßt und der junge polnisch-libanesische Dirigent Bassem Akiki, auf den man inzwischen auch andernorts aufmerksam geworden ist.
Die Optik ist zeitgemäß, musikalisch gibt es nichts zu meckern. Weil es dem Zuschauer oft genug „spanisch“ vorkommt, wenn es in Inszenierungen dieser Oper so richtig schön spanisch zugehen soll, verzichtet Regisseur und Ausstatter Denis Krief in seiner Inszenierung auf allen Pseudokolorit. Er hat die große Bühne weitestgehend leer geräumt; einige Hinweise genügen, die wechselnden Orte der Handlung sind klar erkennbar. Rasch geht der Wechsel von der Straße nach Innen, in die Schenke des Lillas Pastia, zu den Schmugglern und zum beeindruckenden Finale, wenn Helena Zubanovich als attraktive, blonde Carmen – eine Frau von heute und nebenan – aus dem Fenster ihres Zimmers auf die Straße, in Richtung Arena schaut, dem Don José die Tür weist, die er ihr versperrt und durch die er, wenn er dieses für ihn unbezwingbare Objekt seiner verwirrten Begierde ermordet hat, auch nie wieder in die Freiheit gelangen wird.
Immer sind wir im Theater. Der Bühnenraum wird begrenzt durch unzählige schmale Bahnen durchsichtiger Folien, die sich beständig bewegen, das Licht brechen und immer wieder den Blick freigeben auf die Technik und das Geschehen hinter der Szene. Illusion und Desillusion gehen ineinander über, die Grenzen verschwimmen und das Spiel wechselt vom großen Operntheater in die Intimität dieser Glückssucher, das Komische mischt sich mit dem Tragischen. Das funktioniert natürlich nur, weil die großen Chorszenen choreografisch stringent sind und die Personenführung die Individualität der Persönlichkeiten nie verstellt. Das funktioniert in der großen Opulenz, bei der das Ballett seine starken Momente hat, in der grellen Komik einer witzigen Choreografie der Kneipen- und Schmugglertypen, und dann in glaubwürdigem Bruch der Emotionen, wenn Carmen mit ihren Freundinnen die Karten aufschlägt und dazu mit todtiefen Tönen ihr Schicksal ahnungsvoll heraufziehen lässt. Es funktioniert, wenn zum aufschneiderischen Auftritt des Escamillo die Tänzerinnen augenzwinkernd und komisch spanische Opernklischees kommentieren. Und es funktioniert am Ende, wenn zwei einsame Menschen in einer engen Kammer fernab vom Jubel der Massen an ihren nicht einzulösenden Ansprüchen verbluten, direkt oder indirekt.
Das alles ist um so berührender, weil Denis Krief seine Protagonistinnen und Protagonisten zu glaubwürdigem Spiel geführt hat, weil man Helena Zubanovich in der Titelpartie, Roma Jakubowska-Handke als Micaëla und Sang-Jun Lee als Don José die Vertracktheit ihrer Situationen abnimmt, weil sie uns spüren lassen, dass sie vom Leben nicht mit Samthandschuhen angefasst wurden und weil ihre Träume zu groß sind für die kleinen Welten, in denen sie leben. Mariusz Godelweski als Escamillo ist von anderer Natur, der macht seine Sache, singt seinen Siegersong, geht seinen Weg, macht Station in angewärmten Betten und kommt selbst nach dem Zweikampf mit José ohne Kratzer davon. »Carmen« als Opéra comique mit tödlichem Ausgang!
Gesanglich bietet der Abend viele grandiose Momente, die so starken wie reifen Lyrismen der Micaëla, der schöne Effekt des Escamillo, der so sichere und klangvolle Tenor des Don José und vor allem die vielen Facetten der Carmen, sei es der Ton des Übermutes, die List des günstigen Augenblicks, die Zärtlichkeit der tiefen Sehnsucht oder dann auch die kraftvolle Dramatik der Unbeugsamkeit. Dazu klangvolle Chorszenen, besonders gelungen auch der Auftritt des Knabenchores im ersten Akt, tolle Typen, dreiste Knirpse. Große Szenen für das Ballett in der Choreografie von Paul Julius, sei es hervorgehoben mit Pirouetten, Sprüngen und attraktiven Hebungen und dann wieder eingefügt als besondere Akzente der Handlung. Bassem Akiki am Pult des ausgesprochen differenziert spielenden Orchesters beginnt mit einem Wahnsinnstempo – um dann schon im ersten Vorspiel nach minimaler Generalpause ganz andere Töne anklingen zu lassen. In dieser Dualität zwischen der volltönenden Opulenz und fein gewobener Nachdenklichkeit führt er ganz im Sinne der Inszenierung mit nicht nachlassender Spannung durch die Gefühlsextreme dieser mordsmäßig komischen Oper.