Eigentlich wollte ich von einer Premiere im berühmten Théâtre du Capitole in Toulouse berichten. »Daphne« von Richard Strauss, am Pult des nicht minder berühmten Orchestre national du Capitole de Toulouse kein geringerer als Hartmut Haenchen, Patrick Kinmonth als Regisseur und Ausstatter und eine so interessante wie illustre Besetzungsliste. Franz-Josef Selig als Peneios, Anna Larsson als Gæa, Claudia Barainsky in der Titelpartie und Andreas Schager in der gefürchteten Tenorpartie des Apollo. Ja, natürlich in Dresden kennt man ihn noch als Operettentenor in Leuben, aber nach seinem Fachwechsel und dem phänomenalen Triumph als Siegfried in Wagners Ring in der Gemeinschaftsproduktion der Oper in Halle mit dem Theater im Pfalzbau Ludwigshafen standen ihm die Türen der Opernhäuser weit offen! Auch Claudia Barainsky dürfte Dresdnern noch in bester Erinnerung sein; als Marie in Bernd Alois Zimmermanns »Soldaten« oder als Melusine in der gleichnamigen Oper von Aribert Reimann. Und in Dresden Worte über Hartmut Haenchen zu verlieren, sollte den Eulen gleichen, die man nicht nach Athen tragen muss. Oder doch? Man fragt sich schon, warum ein international so gefragter Dirigent in Dresden so gut wie gar nicht gebucht ist. Ist er zu genau, zu gründlich?
Also auf nach Toulouse. Aber Daphne hat sich nicht wie geplant am letzten Sonntag in den immergrünen Lorbeer verwandelt, Leukippos musste nicht in Frauenkleidern versuchen, sich der geliebten Urmutter aller Grünen zu nähern, und Apollo musste den jungen Hirten nicht erschlagen. Es gab keine Premiere. Sie fiel aus.
Das Opernhaus wurde besetzt. Es war schon etwas komisch, als um 14.30 Uhr – ja, hier beginnen Premieren unter Umständen schon 15 Uhr – der einzige Zugang im südlichen Seitenflügel des imposanten Rathauses noch immer verschlossen war. Und dann bewegte sich etwas. Die Tür wurde geöffnet, und urplötzlich stürmten gut 200 junge Leute darauf zu. Naiv, wie ich sein kann, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: welches Interesse der Jugend an der Oper! Alle wollen da noch rein, ran an die Kasse, mensch, das möchte ich mal in Dresden sehen! Aber ehe ich mich versah, war das Tor wieder zu, und die jungen Stürmer hatten mit Absperrgittern alles verbarrikadiert. Und dann war klar: das ist Protest. Spruchbänder und zugeklebte Münder der Protestierenden ließen keinen Zweifel zu. Es ist ein stummer Protest, nur immer wieder Klatschen im Takt oder hoch erhobene Arme mit flatternden Handbewegungen. Keine Diskussionen, keine flammenden Reden, nur die Bedeutung, hier kommt niemand herein und niemand heraus. Gleiches am Bühneneingang. Es ist ein landesweiter Protest, offensichtlich gut organisiert und gut inszeniert, es geht um die Rechte oder um die Rechtlosigkeit der Intermittents du spectacle, also der lediglich auf Zeit Beschäftigten und wendet sich gegen die Ungerechtigkeit dass sie als Garanten von Theater- und Opernaufführungen oder Festivals gegenüber den festangestellten Orchestermusikern total im Nachteil sind. Und es soll weiter gehen. Für gestern war eine Protestkundgebung in Paris vor dem Kulturministerium geplant, und ob das Festival von Avignon wie geplant stattfinden kann, ist derzeit nicht sicher. Während in Toulouse am letzten Sonntag die Protestierenden den Zorn der ausgesperrten Premierenbesucher hervorriefen, konnte man an den Fenstern, hoch oben im Opernhaus, nicht wenige Mitwirkende in Kostüm und Maske sehen, die sich unmissverständlich mit den Protestierenden solidarisierten.
Inzwischen ist es also längst 15 Uhr, kein Zugang zur Oper, auch kein Rauskommen, und der Unmut wächst bei den Premierenbesuchern, es schaukelt sich hoch, beherzte Damen und erboste ältere Herren reißen Spruchbänder herunter, sie schaffen es sogar zeitweilig, die Absperrgitter in ihre Gewalt zu bringen! Aber die Protestierenden verschränken die Arme, alles vergeblich, auch lautstarke Rufe »Daphne« nutze nichts. Die Oper bliebt geschlossen. Polizei rückt an; nicht um den Zugang zu öffnen, nein, um sich schützend zwischen die Protestierenden auf beiden Seiten, zugunsten der Benachteiligten vor dem Eingang zu stellen. So gegen viertel nach vier kommen einige Herren in schwarzen Anzügen, offensichtlich Opernpersonal, und teilen mit, dass es keine Premiere geben wird. Nach und nach, in kleinen Gruppen, unter dem Beifall der Demonstranten, verlassen Musiker und Mitwirkende durch den streng bewachten Bühnenausgang das Theater, manche mit eisigen Gesichtern, andere mit solidarischen Gesten…
Soviel zu »Daphne« in Toulouse. Das war übrigens schon die zweite Veranstaltung während meines kurzen Aufenthaltes in der charmanten Stadt, die ich nicht erlebte, denn tags zuvor konnte ich ein Orgelkonzert in der Eglise du Taur nicht besuchen. Kein Zugang über den Place du Capitole möglich: diesmal keine Proteste, ausgelassene Fröhlichkeit, Unmassen von geschmückten Menschen schwitzen bei gut 30 Grad im Schatten bei einer riesigen Schwulenparade. Kein Durchkommen, keine französische Orgelmusik der Spätromantik in der kühlen Kirche mit ihrer berühmten Orgel. Aber dann, am Abend, war der Platz leer, der Zugang zur Oper frei, und ich konnte wie geplant im großen Foyer eine Einführung mit tänzerischen Beiträgen zur nächsten Premiere des Ballet du Capitole erleben. »Valser« heißt der neue Abend, das sind Tango-Choreografien von Catherine Berbessou zu Musik von Bach, les maîtres-tambours du Burundi, anonymen Kompositionen des 15. Jahrhunderts und berühmten Tango-Musik. Klingt alles spannend, die gezeigten Demonstrationen der sechs Tänzerinnen und Tänzer machen eigentlich Lust, mal in einer ganzen Produktion zu sehen, wie in Toulouse getanzt wird. Zu Beginn der neuen Saison wird man mit der Einstudierung von Originalchoreografien an Serge Lifar und Roland Petit erinnern. Mit dem ehemaligen ersten Tänzer des Balletts der Pariser Oper Kader Belabri hat man hier seit 2011 einen ausgesprochen fähigen Ballettchef der 35köpfigen Kompanie. Sein tänzerisches Können ist auf etlichen DVDs dokumentiert, unter anderem auf »Picasso and Dance«, wo er in Léonide Massines »Le Tricorne« von 1919 in Picassos Ausstattung in der Pariser Rekonstruktion von 1993 tanzt. Oder in »Appartement« von Mats Ek mit den Pariser Stars Marie-Agnès Gillot, Clairemarie Osta und Nicolas Le Riche. Außerdem kommen jetzt unter Belabris Direktion mit »Noces« von Stijn Celis und »Walking mad« von Johann Inger zwei Choreografien ins Repertoire des Ballt du Toulouse, die sich auch in Dresden großer Beliebtheit erfreuen. Ach ja, Dresden, so Kader Belabri, im Gespräch nach der Lecture Performance, tolle Tänzer habt ihr da! Die Dresdner seien zu beneiden, etwa um die Chance, regelmäßig einen Mann wie Jiří Bubeníček tanzen zu sehen. Bitte, unbedingt, herzliche Grüße an Jiří! Wird erledigt. Vielleicht muss ich doch mal wieder nach Toulouse reisen, wegen der Oper, des Balletts wegen und nicht zuletzt wegen dem Charme dieser Stadt. Und da muss man auch nach einer ausgefallenen Premiere nicht so ganz sauer sein. Immerhin, der Groll verfliegt spätestens unter den blühenden Lindenbäumen im Café auf dem Place St. Georges. Das dies ein schöner Ort ist, finde nicht nur ich, sondern auch Haenchen, den es genau dorthin mit den Sängerinnen und Sängern seiner »Daphne« zog. Immerhin, man sieht sich in Toulouse, der Zufall wird es wollen, man hört voneinander hier oder dort. Immerhin arbeitet der Dirigent derzeit an einem großen internationalen Projekt zum Thema »Krieg und Frieden«. Er will musikalische Korrespondenzen und Bezüge zu dem aufzeigen, was in der Folge des Jahres 1914 geschah und mit dem Jahr 1945 zu Ende ging.