Eindrücklicher könnte der Start zur aktuellen Auflage kaum sein. Patricia Apergi und ihre Aerites Dance Company aus Griechenland sorgten schon im letzten Jahr für Aufsehen. Genau wie jetzt zeigte sie mit ihren grandiosen fünf Tänzern und Performern „Planites“. In diesem Jahr allerdings auf der großen Bühne des Festspielhauses. Eine kluge Entscheidung der Kuratoren. Was im letzten Jahr die räumlichen Begrenzungen einer Minispielstätte zu sprengen schien, ist jetzt nicht weniger überzeugend, es will scheinen, als hätte die Herausforderung der neuen Dimensionen die Dichte des Stückes befördert.
Wieder, nur eben jetzt in der Weite des Raumes viel verlorener, das geniale Bild des Anfanges, von dem sich dann der dynamische Bogen bis zum so sensiblen wie berührenden Schlussbild spannt. Zunächst sitzen die Performer auf Stühlen, die auf einem großen Flickenteppich stehen, der die gesamte Bühne ausfüllt. Wenn sie aufstehen zerbrechen die Stühle, die temporären Flicken des Teppichs werden unter den Füßen der verstörten Männer weggezogen. Jetzt stehen sie mutterseelennackt im großen, gnadenlos schwarzen Raum des Theaters und müssen ihre Bahnen finden. Sie werden gehen, rennen, stolpern und stürzen. Sie werden in Kämpfe und Konkurrenzen geraten, sie werden sich Schutz erkämpfen, sie errichten ein Dach aus lebenden Körpern, sie suchen Nähe und Zärtlichkeit. Dabei bringen sie die Bewegungserinnerungen zurückgelegter Wege und Irrwege mit. Sie suchen die Verständigung und scheitern an ihrem Stammeln, verbal und körperlich. Für keinen Moment lassen einen diese Menschen in ihrem getanzten Kampf gegen die eigene Entfremdung in der Fremde los. Am Ende leeren sie ihre Taschen, kleine Schätze, armselige Habseligkeiten, manche auch versteckt am Körper, in den Schuhen, in den Socken, und so hinterlassen sie eine Spur, wenn sie sich im Dunkel des verlöschenden Lichtes verlieren.
Eine so wundersame wie verstörende Reise, auf die uns Ilias Chatzigeorgiou, Nontas Damopoulos, Konstantinos Papanikolaou, Konstantinos Rizos und Dimokritos Sifakis zur Musik von Vasilis Mantzoukis, im Licht von Nikos Vlasopoulos auf der Bühne von Andreas Ragnar Kasapis mitnehmen. Und sie haben sich eingelassen und es zugelassen, dass Patricia Apergi ihnen den choreografischen Schutz gibt, auch ihre Momente der Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit zu zeigen.
Damit war ein Maßstab für den weiteren Verlauf des Festival gesetzt. Wenn auch gänzlich anders, so setzte Antje Pfundtner in Gesellschaft der beiden Kinder Marieke Hummig und Clara Busse mit ihrer Performance „Nimmer“ die Höhe der Ansprüche fort. Ihre These: Nichts könne verschwinden, alles tauche wieder auf, Menschen oder Socken, und sei es nach drei oder zehn, nach hundert, oder noch mehr Jahren. Alles überlebe, selbst Schneeflocken, zumindest vier in jedem Jahr. Wie Antje Pfundtner uns mitnimmt auf die Wege ihrer Suchgeschichten, mit dem Wolf, der an die Tür des alten Hauses klopft und dort mit Henne, Schaf und Schwein eine Steinsuppe kocht, das ist von poetischer Kraft, wobei sich Bewegungen, Worte und Klänge verbinden. Wie sie uns freundlich verstört wenn sie für Helene tanzt. Helene ist ein Knochengerippe ohne Beine und der Tanz heißt „Der Tod und das Mädchen“. Wie sie uns einlädt, ein bisschen traurig zu sein und das Fell eines Eisbären überstreift, der dann mit überlangen Armen einsam in der Gegend steht als wäre er ein weinender Pinguin, der sich verlaufen hat. Aber da gesellt sich schon eines der Kinder aus ihrer Gesellschaft wie ein Abbild früher Ängste zu ihr, und zu zweit ist das schon alles wieder ganz anders.
Sind es die Jacken verlorener Kinder, die sie wie einen Weg durch den Raum auslegt, darf man auch an die dazugehörigen Kinderschuhe denken, an die aus Lublin etwa? Oft ist von der Nacht die Rede, von der Kälte, vom Verlieren und vom Wiederfinden. Dazu auch Klänge, ganz aus der Ferne, ein Klavier, das sich selbständig macht, eine Melodie mit großem Orchester, woher, wohin? Der Wolf geht. Er kommt nicht zurück. Das ist gut so. Und einmal muss Schluss sein. „Antje“, hatte ihre Mutter gesagt, „Du weisst nicht wann Schluss ist.“. „Aber wer weiß das schon?“, hat sie darauf geantwortet. Und jetzt weiß sie es ganz sicher. Sie entlässt uns auf unsere Suchwege, nach der Kindheit, nach den Socken, nach dem Schaf, der Henne, dem Schwein oder dem Wolf, dem Tod und dem Mädchen, nach allem, je ein wenig davon, in uns selbst.
Darf man auch an den großen Magier des Theaters denken, an Max Reinhardt, und seine Behauptung, der Schauspieler sei ein Mensch, der seine Kindheit in die Tasche gesteckt habe, sich auf und davon gemacht habe und nicht aufhören könne zu spielen. Und das Lied vom Tod zu spielen gehört dazu.
Warum funktioniert diese scheinbar bescheidene Performance je auf ihre Art bei Kindern und Erwachsenen? Weil, so wie es eigentlich bei allen choreografischen Arbeiten sein sollte, die Kraft im Mass liegt und in der genauen Zuordnung der Dinge, hier Wort und Raum, Bewegung und Klang, im Spiel mit der Fantasie als einer Schwester der Wahrheit und die ist bekanntlich konkret.
Es kann auch anders gehen, ein Festival birgt Risiken, dann muss man damit leben, dass es Beiträge gibt, bei denen weder das Mass noch die Kraft angemessen sind, die sich verlieren in Selbstgenügsamkeit, da nutzt auch ein möglicherweise fleißig aufgesetztes Konzept nichts. Jasmina Križaj aus Slowenien & Cristina Planas Leitão aus Portugal fragen sich in „The Very Boring Piece“ bei kosmischen Klängen, „Was, wenn nichts passiert? Was, wenn etwas passiert und wir es verpassen? Was, wenn es genau das war, was hätte passieren sollen?“ Gemessen, an dem was dann in knapp 60 Minuten zu sehen ist kann man den Eindruck bekommen, sie sind übers Fragen nicht hinaus gekommen dazu an ihren eigenen, bescheidenen technischen Ansprüchen gescheitert, und irgendwann haben sie auch die Lust verloren und nun solle doch das Publikum selber sehen, ob etwas passiert oder nicht, ob man was verpasst oder ob man eine Ahnung davon bekommt, was passieren könnte. Das ist dann, wie es die beiden Selbstdarstellerinnen gemeinsam mit Simon Wehrli, in langen Einstellungen recht pathetischer Haltungen, die an historisches Operngesten erinnern, ganz schön langweilig geworden. Man kann sich wieder nur dem anschließen, was die Macherinnen selbst zu ihrem Stück sagen, „eine Art Nebel,…ein diffuses, astronomisches Objekt.“ Kein Kommentar.
Die Dresdner Choreografin und Tänzerin Cindy Hammer geht mit ihrer Kompanie „go plastic“ unbeirrt von Trends und Moden ihren Weg. Sie mischt die Genres und hat keine Furcht vor großen Themen. So widmete sie sich mit ironischer Melancholie „Schwanensee“-Motiven, ist „Mit Alice in den Städten“ unterwegs und jetzt ist sie sogar kriminell geworden. „About:Blanc“ heißt ihre neue Arbeit um Tanz und Todschlag, und dazu ließ sie sich vom Genre des Thrillers oder auch des serienmäßig gefertigten TV-Krimis anregen. Nicht dass jetzt ein kriminelles Handlungsballett zu erwarten wäre. Aber das unverzichtbare Blaulicht blinkt an den Sohlen mörderischer High Heels einer Tänzerin, ein Kommissar gerät im Umgang mit dem schönen Geschlecht in kriminelle Leidenschaften, wofür er am Ende ins Tutu gesteckt wird. Er wird das Röckchen heben, wenn drei verführerische Engel, von denen einer männlichen Geschlechts ist, für ihn tanzen. Zwei Tänzerinnen geben sich lasziv oder geheimnisvoll, sie stürzen ab und stehen auf und nehmen bei grotesken Bewegungsmustern Elemente einer Thriller-Show lustvoll auf die Schippe. Isabelle Schramm und Sarah E. Lewis sind die Serientänzerinnen, der kraftvolle Tänzer Jared Marks in kurzen Hosen begibt sich in unterschiedliche Rollen, Mörder oder verdeckter Informant, oder auch beides, wer kann das noch ganz unterscheiden. Der bewegungsbegabte Schauspieler Wolfgang Boos jongliert mit Versatzstücken aus „Tatort“-Kommissar-Kitsch-Motiven ebenso wie mit augenzwinkernd präsentierten Versatzstücken aus Hollywoods Rumpelkammer.
Dazu passen die Zusammenstellung der Musik, machmal meint man sie zu kennen und liegt dann beim Blick in den Programmzettel, der fast so viele Namen wie der Abspann eines Krimis auflistet, doch falsch. Andere, wie Bruce Springsteen, High Water oder Falco und Astrud Gilberto, passen wie die berüchtigte Faust aufs Auge, womit man wieder beim Genre wäre. Apropos, könnte es sein, dass es Cindy Hammer mit ihrer Kompanie dabei ist, ein neues zu kreieren? Oder gabs das schon, so etwas wie ein groteskes Boulevard-Tanz-Theater? Falls nicht, dann los, bitte, auf jeden Fall.
Zum Finale wird´s politisch. Aktuell, versteht sich, Europa, Demokratie, Tanzwut-Themen: Maud Le Pladec/Léda aus Frankreich mit ihrer Kompanie und den Live-Musikern vom TaCTuS-Ensemble mit „Democracy“, Leja Jurišic aus Slowenien als Selbstdarstellerin in der Performance „Ballet of Revolt“.
Beide Arbeite gehen ihre Themen sehr direkt an, so richtig revolutionär wird aber keine.
Zunächst wird im Beitrag aus Frankreich versucht aus mildem Chaos so etwas wie demokratisches Gleichgewicht im Umgang und in der Zuordnung verschiedener Kräfte anzustreben. Die Inszenierung wird dominiert durch vier live spielende Schlagzeuger, dazu müssen sich drei Tänzerinnen und zwei Tänzer verhalten, das ist nicht immer leicht. Der kräftige Sound dominiert, auch wenn immer wieder versucht wird Musiker und Tänzer in gemeinsame, kollektive Vorgänge einzubinden. Das choreografische Material kommt mitunter nicht weit über den Stand einer rhythmisierten Kontaktimprovisation oder Raumerkundungen bei gegenseitiger Aufmerksamkeit hinaus. Immerhin, in heiterer Einfall in Sachen Demokratie: Es darf auch geschossen werden, aber die Waffe wird streng nach den Regeln des musikalischen Grundgesetzes – also nach Vorgaben der Partitur und dem Takt des Metronoms – benutzt. Peng, Peng nach Noten, ganz unterhaltsam.
Ganz direkt dann das Solo aus Slowenien, die Performerin ist getrieben von unbändiger Wut auf aktuelle, europäische Verhältnisse. Europa ist für sie eine Finanzkonstruktion, als Landkarte ist der Kontinent auf der Bühne nicht mehr als ein lose zusammengefügtes Konstrukt aus Banknoten. Dieses Europa der Euro-Diktatur kann man nur zertanzen und unter den nackten Füßen zerfetzen, das macht Leja Jurišic im ramponierten Tutu mit Bwegungsanleihen aus einer europäischen Vergangenheit als zwar nicht jedes Land seinen eigenen Tanzstil, aber eine eigene Währung hatte. Es bleibt nicht beim ekstatischen Zerstörungstanz, die Wut muss auch herausgeschrienen werden, fünf Mikrophone stehen bereit und werden genutzt. Angela Merkel hat sie gefressen, ein Bild von ihr würgt sie sogar herunter, letzt liegt sie ihr im Magen, mögliche verdauungstechnische Folgen bleiben uns erspart. Dann braucht sie eine Pause, eine Zigarette, ein Flirt mit dem Publikum, runter mit dem Tutu, rein in die grünen Stöckelschuhe, dazu streift sie in langes, goldglitzerndes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt an, so dass auch jeder sehen muss, wahre Gesinnung zeigt sich an der Unterwäsche, die trägt sie nämlich linksrum. Und dann, ab in den Brunnen der Vergangenheit, bis in die Tiefen der griechischen Mythologie, als „Europa“ eine schöne Frau war, nach der ein fremder Erdteil benannt wurde. Also doch, Europa ist weiblich. Und wenn wir das vernommen haben, dann ist auch diese Revolte mit etwas Ballett schon zu Ende.
Interessant ist die musikalische Seite dieser Kritik an den Finanzmechanismen. Verwendet wird George Antheil´s stark an der Musik Strawinskys orientierte Komposition „Ballet Méchanique“. Ein wilder Sound für unterschiedlich viele Klaviere, bzw. Pianolas, die schon bei ihrer zweiten Aufführung 1926 in Paris nicht funktionieren konnte, denn nach der Anfangseuphorie zur Uraufführung zwei Jahre zuvor wollte es nicht mehr gelingen 16 Pianolas durch ein einziges, zentral gesteuertes Instrument zum Klingen zu bringen. Die Direktheit wird nicht jedermanns Sache sein. Der körperlichen, schonungslosen, selbstzerstörerischen Art der Performerin kann man sich aber schlecht entziehen.
Ein Satyrspiel am späten Abend zum Abschluss eines Festivals: gut gesetzt.