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Wie im Fieber

Foto: M. Morgenstern
Foto: M. Morgenstern

Wie im Fieber verbrachten viele Aficionados zeitgenössischer Klänge die letzten Tage. Rauschhaft ging es am Sonntag zu Ende, das diesjährige TONLAGEN-Festival. Fünf Jahre hat es nämlich gedauert, bis das alkoholgeschwängerte „Symposion“ wieder in Hellerau stattfand, zum zweiten Mal überhaupt (mithin vielleicht zum letzten Mal – denn wer weiß schon, was in fünf Jahren sein wird?). Wie letztes Mal gab es im musikalischen Teil der Nacht ein, zwei Werke zu hören, die, um eine Pointe Alexander Keuks aufzugreifen, „auch in nüchternem Zustand nicht zu ertragen“ gewesen wären: Giacinto Scelsis „AITSI“ (1974) für verstärktes Klavier etwa. Klang-Setzer Scelsi horchte hier den Auflösungen verschieden dichter Clusterklänge hinterher, ihrer Ausdünnung, ihrem Verschwinden. Die Wirkung auf den Hörer indes ist verheerend: schon nach ein, anderthalb Minuten hat man die zugrundeliegende Idee durchstiegen und vermisst im folgenden jedweden Genuss- oder Erkenntniszuwachs.

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„Rucke di Guck“ vor einem Gläser- und Flaschenpanorama (Foto: M.M.)

Waren es vor fünf Jahren noch Lachenmannsche Tiraden und schlussendlich ein geniales „In C“ von Steve Reich gewesen, kreiste der neuneinhalbstündige Monster-Konzert-Rausch dieses Jahres um Scelsis Klangideen, die andere Komponisten in seinem Auftrag später in Noten gossen. Flatterhaftigkeiten von Oboe und Piccoloflöte waren zu hören („Rucke di Guck“, 1957). Und fantastische Zwischenwelten taten sich auf mit dem 4. Streichquartett (1964) oder der Kompositionsskizze zu „Anahit“ (1965). Fiebrige Tonschwebungen, allmähliche Akkordblähungen und subtile Grundtonverschiebungen mischten sich zum Soundtrack eines quasi-halluzinogenen Trips, aus dessen Benommenheit man sich nur schwer befreien konnte, um die allzu-weltlichen kulinarischen Anteile des Konzerts würdigen zu können (diesmal verantwortlich: die Pasta-Manufaktur des Hauses).
Und natürlich die Weine! Vierzehn weitere Geschmackswelten, die nötig waren, um die Nacht – wie vom Symposiarchen Sven Hartberger streng angewiesen – im sanft- bis volltrunkenen Zustande zu verbringen, sich selbst allmählich mithilfe des Alkohols und der Klangreisen zu entkörperlichen und – zu entzeitlichen! Denn Musik, so zitierte Hartberger Scelsi, sei eine Zeitkunst, der Klang hingegen sei „ohne Zeit“.

"Circuit Bending" nennt sich die Kunst, die Leiterplatten von klingenden Spielzeugen mit Lötkolben und Co. so umzuprogrammieren, dass sie allerlei Arten unerwarteter Klänge hervorbringen. Achtung: Ansteckungsgefahr! (Foto: M.M.)
„Circuit Bending“ nennt sich die Kunst, die Leiterplatten von klingenden Spielzeugen mit Lötkolben und Co. so umzuprogrammieren, dass sie allerlei Arten unerwarteter Klänge hervorbringen. Achtung: Ansteckungsgefahr! (Foto: M.M.)

Nicht nur die „Hardcore-Fans der zeitgenössischen E-Musik“ habe man mit dem neuen TONLAGEN-Konzept ansprechen wollen, so Hausintendant Dieter Jaenicke. Das ist definitiv aufgegangen: so haben zwar insgesamt nicht mehr Besucher den Weg nach Hellerau gefunden, aber eine deutlich breitere Zielgruppe. Familien mit ihren Sprößlingen erfreuten sich am ToysNoiseVirus, den Alwin Weber und Ulrike Gärtner im Obergeschoss des Festspielhauses aussetzten. Musikstudenten und greise Professoren priesen gleichermaßen die multimediale Performance der Kölner Musikfabrik, bei der morbid-melancholische Trickfilme des Tausendsassas Paul Barritt (inspiriert vom Klassiker „Krazy Kat„) sich mit eigenständigen Klangwerken des genialischen Außenseiters Harry Partch überlagerten.

Elise Jacoberger, Kontraforte, und Martin Bliggenstorfer, Lupophon (Foto: S. Floss)
Elise Jacoberger, Kontraforte, und Martin Bliggenstorfer, Lupophon (Foto: S. Floss)

Roundtables warfen Lichtpunkte auf „neue Instrumente“ und „neue Klänge“. Vorgestellt und hernach in einem Konzert mit Uraufführungen sächsischer Kompositionsstudenten verwendet wurden etwa zwei Neukreationen aus der Werkstatt Guntram Wolfs, das „Kontraforte“ und das „Lupophon“. Hans van Koolwijk spielte (ohrenbetäubend) sein „Bambuso sonoro“. Und Jan Heinke, Obertonsänger, Stahlcellist und diesmal eine Art guter Geist der Festspiele, präsentierte im Seitenfoyer einen riesigen Stabgong, der Besucher aller Klassen zu eigenen Klangerkundungen verlockte…

Sozusagen in eigener Sache sei angefügt, dass auch die Musikkritiker diesmal eine interessante Nebenfarbe der TONLAGEN lieferten. Eine für das Publikum offene Journalistenwerkstatt beschäftigte sich drei Tage lang mit den dargebotenen Klängen; regionale und überregionale Kritiker und Redakteure tauschten sich aus, gaben schreibenden Neulingen Tips und lauschten ihrerseits den Ausführungen der Künstler und Gastgeber. Selbstbewusstes Fazit: die Rezension, der Austausch über das Gehörte ist ein wesentlicher Teil der Zeitkunst Musik, eine Art „öffentlicher Resonanzraum“, in dem das Werk nach- und weiterwirkt. Dies anzuerkennen und weiterzuspinnen, wäre nicht nur ein wesentlicher Teil zukünftiger TONLAGEN-Jahrgänge, sondern sollte generell das Konzertleben wieder stärker einfärben. Dazu wäre allerdings notwendig, dass die (Print-)Redaktionen das „Schreiben über Musik“ nicht mehr nur als kostspielige Randerscheinung des Feuilletons abtun, sondern als pulsierendes Herz eines Blattes für neue, neugierige, auf kurzweiligen, dennoch niveauvollen Austausch bedachte Leser.