Achtzigtausend Bierkrüge, zwanzigtausend Teilnehmer, über tausend Sängervereine, eine riesige Festhalle unterhalb der Waldschlösschenbrauerei, ein dreistündiger Festumzug durch die geschmückten Straßen: so präsentierte sich das erste deutsche Sängerbundfest 1865 in Dresden. Anlässlich des 130jährigen Bestehens der Singakademie Dresden ging Philipp Schubert für »Musik in Dresden« der Frage nach: Wie sah damals eigentlich die Laienchorszene in der Residenzstadt aus?
Die Freude am Chorsingen, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem neuen Selbstbewusstsein einer bürgerlichen Musikkultur. Carl Friedrich Fasch brachte mit der Gründung der Berliner Singakademie 1791 den Stein ins Rollen. Nicht nur der Chorgesang erhielt dadurch einen neuen Stellenwert, auch die Pflege Alter Musik, vor allem Bachscher Werke, war ihm ein großes Anliegen. So ist es kein Wunder, wenn es Organisten und Kapellmeister anderer Städte von Rang der neuen Berliner Mode gleichtun wollten! Die Freude an Geselligkeit und eine gemeinschaftliche politische Überzeugung veranlasste Männer wie Frauen, organisiert in Vereinen – auch abseits der Kirche – künstlerisch an die Öffentlichkeit zu treten. Das brachte frischen Wind in das Konzertwesen und war Anlass für zahlreiche Chorkompositionen.
Wer waren nun die bekanntesten „Dilettantenchöre“ Dresdens? In der Sächsischen Landeshauptstadt lassen die unzähligen Namen von Chören erkennen, was längst zu einem Massenphänomen geworden war: Steuber’sche Akademie, Dresdner Männergesangsverein „Orpheus“, Singverein „Vor dem Schwarzen Thor“, Ehrlich’sche Akademie vor dem „Seethor“, Mokritz’sche Singakademie, Communal- und Malerverein vor dem „Pirnaischen Thore“ – um nur die wichtigsten zu nennen. Wer wagte den ersten Schritt? Der Dresdner Hoforganist Anton Dreyßig gründete 1807 die Dreyßigsche Singakademie, einen gemischten Chor. „Den Sinn für ächte Kirchenmusik zu befriedigen, auszubilden und zu erhalten“ lautete die Maxime. Die Gebühren für nötigen Gesangsunterricht und die Teilnahme wurden gering gehalten, da „es bei der ganzen Unternehmung nicht auf Erwerb abgesehen“ war.
Unter der Leitung Dreyßigs traten die Sängerinnen und Sänger am 9. November 1812 zum ersten Mal öffentlich in der Dreikönigskirche auf. Die Akademie verpflichtete sich der Pflege von Oratorien und Messen. Als Zuhörer schwärmte Carl Maria von Weber: „Die klassischen Meisterwerke Händels, Mozarts, Haydns usw. waren für uns neu und nie gehört.“ Die Nähe zur königlichen Hofkapelle zeigte sich in häufigen Konzerten im Opernhaus, bei denen Mitglieder des Königlich-Sächsischen Hofes anwesend waren. Die Dresdner Liedertafel orientierte sich auch an einem Berliner Vorbild, der von Carl Friedrich Zelter gegründeten Liedertafel. Seit 1839 brachte sie mit nicht mehr als 33 männlichen Mitgliedern (je 16 Tenöre und Bässe plus „Liedermeister“) vor allem volkstümliches Liedgut und weltliche Werke dar. Doch auch der „edlen und gemüthvollen Geselligkeit“ wurde in besonderem Maße gehuldigt, sei es mit Wasserfahrten, gemeinsamen Abendessen im Großen Garten oder mit Auftritten auf Volksfesten.
Prominente Komponisten übernahmen die Stellung des Dirigenten: Richard Wagner leitete die Liedertafel ab dem Winter 1843. Das „Liebesmahl der Apostel“, am 6. Juli 1843 beim Männergesangsfest in der Frauenkirche uraufgeführt, stellt dabei ein wahres Initiationserlebnis für die kommenden Jahre dar. Als Wagners einziges geistliches Werk soll es bei der Uraufführung ganze 1200 Sänger unter der Kuppel der Frauenkirche vereint haben. Auch Robert Schumann war von 1847-48 Leiter der Dresdner Liedertafel. Doch allzu schnell wurde er den „ewigen Quartsextakkorde[n] des Männergesangstils“ überdrüssig. So steht es jedenfalls in der Festschrift des 50-jährigen Jubiläums der Robert Schumannschen Singakademie. 1848 gestiftet, widmete sich dieser gemischte Chor der zeitgenössischen Musik. Dass dies im Lichte einer religiös-mystischen Kunstausübung und ganz im Sinne der Romantik geschah, bezeugen die Worte Schumanns: „Wir kommen oft außerhalb der Stadt zusammen, wandeln bei Sternenschein zurück und dann erklingen Mendelssohnsche und andere [seine eigenen] Lieder durch die stille Nacht und alle sind so fröhlich, daß man es mit werden muß.“ Begleitet wurden die Sängerinnen und Sänger natürlich von Clara Schumann am Klavier.
Die Vielfältigkeit der Dresdner Laienchöre scheint nach über hundert Jahren unverändert. Ob der Sächsische Bergsteigerchor Kurt Schlosser Dresden, femmes vocales dresden, der Carl-Maria-von-Weber-Chor Dresden, der Polizeichor Dresden 1953, der Jazzchor Dresden oder der Dresdner Mädchenchor – die Wurzeln einiger Chöre kann man bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. So auch die der Singakademie Dresden. Sie ist gerade 130 Jahre alt geworden, ihr Gründungsdatum fällt in das Jahr 1884. Als Dresdner Lehrergesangsverein begonnen, haben sich im Laufe der Jahre Repertoire und Profil geändert. Auch die Namensgebung weist bereits darauf hin, dass sich nicht nur ausschließlich (männliche) Lehrer zum gemeinschaftlichen Singen treffen. 1928 erweiterte der damalige Leiter Fritz Busch den Gesangsverein um einen Frauenchor. Erst nach dem Krieg sangen weibliche und männliche Stimmen gemeinsam im Volkschor Dresden. Die heutige Singakademie existiert seit 1991. Ist es nicht toll, dass traditionsreiche Singegemeinschaften das Musikleben bereichern und die Freude am gemeinsamen Singen die Menschen zusammenführt? Vielleicht ist es mal wieder Zeit für eine Festhalle auf den Elbwiesen…