Königskinder müssen nichts mit Blaublut und Inzest zu tun haben, auch nichts mit staatlich geförderter Rückgabe von ohnehin unrechtmäßig angeeigneten Kunstwerken und Immobilien. Wenn „königlich“ als wahrhaft edel und menschlich verstanden wird, können einem Königskinder ans Herz wachsen. So ging es wohl auch dem Premierenpublikum der „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck in der Semperoper, das nach deren Finale und einer kurzen Atempause heftig applaudierte.
Diese letzte Neuproduktion des Jahres hat ausnahmsweise kein Happy End, kein lieto fine, wie es ansonsten so gern im Musiktheater vorkommt. Nein, dieses Werk endet tragisch, was bereits die Ouvertüre ankündigt, die nach spielerisch freundlichem Auftakt in ein Düsternis verheißendes Moll schwenkt. Noch mehr aber kündigt das Vorspiel zum dritten Aufzug an, dass wir es hier nicht mit einer weihnachtlich einlullenden Märchenoper zu tun haben.
Humperdinck schrieb die „Königskinder“ auf ein Libretto von Ernst Rosmer. Hinter diesem Pseudonym musste sich vor gut einhundert Jahren die Dramatikerin Erna Bernstein verbergen. Sie dürfte als eine der frühesten Autorinnen gelten, die in ihren Arbeiten sozialkritische Themen mit der Gleichberechtigung der Frau verknüpften.
Dass sich Regisseurin Jetske Mijnssen gemeinsam mit ihrem Ausstatter Christian Schmidt auf den Weg gemacht hat, den Lebensspuren von Erna Bernstein in München nachzuspüren, ist eine eher ungewöhnliche Herangehensweise – aber eine mit absolut schlüssigem Ausgang. „Elsa Bernstein war eine jüdische Frau und sehr begabt. Das Interessante ist, sie lebte in München gerade an der Straße, wo Hitler immer seine Paraden abgehalten hat. Sie konnte Anfang der 20er Jahre schon alles kommen sehen und wurde am Ende ihres Lebens sogar nach Theresienstadt gebracht,“ hatte Jetske Mijnsen vor ihrem Dresden-Debüt berichtet. „Ihre Schwester ist dort gestorben, sie selbst hat überlebt.“
Folglich habe die Autorin die in „Königskinder“ beschriebene Gesellschaft quasi an der eigenen Haut erleben müssen, genau das wollten Mijnssen und Schmidt als Ausgangspunkt ihrer Inszenierung nehmen. Dabei trägt die Verortung der Oper in den 1930er Jahren eine Verbindung mit dem Heute. Zwar sollte es vorrangig um die sich breit machende Intoleranz in ihrer niederländischen Heimat gehen, merkte die Regisseurin vorab an, doch wurde sie auch in Dresden mit fremdenfeindlichen Protesten konfrontiert. Mag sein, dass sich in den Pegida-Aufmärschen genau jene Unsicherheit manifestiert, an die Ex-Kanzler Helmut Kohl zeitgleich zur Premiere vor seinen Dresdner Diederich Heßlings erinnert wurde: „Aus Ängsten aber kann nichts Gutes erwachsen.“
Ein Märchen für Erwachsene
Ängste sind es wohl auch, die die „Volksgemeinschaft“ vom fiktiven Ort Hellastadt nach einem neuen König gieren lässt – und die titelgebenden Königskinder verstößt. Denn die kommen zerlumpt und wie Bettler durchs Stadttor. Solche will man nicht in den Reihen der satten, sauberen Reichen-Welt. Ironie der Geschichte in dieser Oper: Der sich als Schweinehirt verdingende Königssohn ist ein wirklicher Königssohn. Und auch seine geliebte Gänsemagd, die fern aller Menschen bei einer Hexe im Wald aufgezogen wurde, ist voll königlicher Anmut im Herzen und in ihrer Seele.
Grimmsches Hexenhaus, deutschen Wald und deutsches Stadttor sucht man in dieser Inszenierung der „Königskinder“ aber vergebens. Das Stück spielt in einer (ehemals jüdischen?) Villa. Bis auf ganz wenige Punkte, wo Text und Situation einander widersprechen, geht das wunderbar auf. Insbesondere die Szenen der Hellastadt funktionieren nicht zuletzt dank der 30er-Jahre-Kostüme – an einigen Kragenaufschlägen schon mit Parteiabzeichen – perfekt. Die widerliche Sattheit der reichen Städter darf so, wie sie vorgeführt wurde, auch durchaus als Spiegel gedeutet werden. Nach der Vertreibung der Königskinder, denen vorerst nur Hunger und Elend bleibt, stürzt alle Pracht der Gut-Bürger zusammen. Die Bühnen-Villa wird zur Ruine, in die es hereinschneit. Kein schöner Sterbeort, ein trauriger, qualvoller Hungertod der beiden. Als die Kinder aus der Stadt kommen, um den Frevel ihrer Eltern wiedergutzumachen, kommen sie zu spät. Aber sie haben etwas begriffen, das wir wohl alle aus diesem berührenden Abend mit nach Hause nehmen können.
Ansehen und nachdenken
Der große Jubel nach dieser Premiere am Freitag galt allerdings nicht allein Jetske Mijnssen und Christian Schmidt sowie ihrem Lichtgestalter Fabio Antoci, der für wirklich zauberhafte Stimmungen sorgte. Gefeiert wurden auch Mihkel Kütson, der im Hause unter anderem schon „Hänsel und Gretel“ dirigiert, sowie die Sächsische Staatskapelle, die einen farbreichen Humperdinck aufblühen ließ, in dem einige Wagner-Nähe deutlich hervortrat und das große Eigenpotential von dessen einstigem Assistenten zu entdecken war.
Nicht anders als überwältigend sind die Leistungen der beiden Königskinder zu werten. Barbara Senator trat als Gänsemagd den Spagat von unschuldsvoll mädchenhaft hin zur jungen, begehrenden Frau an und sang sich mit glasklarem Sopran scheinbar mühelos nicht nur ins Herz des Weggefährten, sondern auch in die der begeisterten Zuschauer. Warum sie allerdings just ihre innige Liebeserklärung ins Parkett singen musste und nicht an den mit einem recht wandelbaren Tenor ausgestatteten Tomislav Muzek als Königssohn, mag ein Rätsel der Regie bleiben. Auch Christoph Pohl wurde rechtens gefeiert, denn als einzige Figur neben den Titelhelden war sein Spielmann mit einer auch sanglich transportierten Menschlichkeit versehen, die tiefe Sympathien weckte. Ihm zur Seite stand der Kruzianer Georg Bartsch als stark mitfühlender Junge – für seinen glockenhellen Knabensopran flog ihm der Jubel nur so entgegen.
Dass auch die „bösen“ Partien stimmlich und darstellerisch absolut überzeugten, lag an Koryphäen wie Tichina Vaughn als Hexe, an Michael Eder als Holzhacker, Tom Martinsen als Besenbinder und Alexander Hajek als Wirt. Kabinettstückchen lieferten Christina Bock als abblitzende Wirtstochter sowie Rebecca Raffell als Stallmagd. Ein kluger Kniff verwandelte sie und eine Reihe Komparsen vom Stall- zum Küchenpersonal, umschwirrt vom bestens präparierten Staatsopernchor sowie vom Kinderchor des Hauses (Einstudierung Wolfram Tetzner / Claudia Sebastian-Bertsch). Auch Gerald Hupach als Schneider und Matthias Henneberg als im Rollstuhl vorgefahrener Ratsältester sowie die beiden Torwächter Pavol Kubán und Julian Arsenault sind untadelige Mitglieder dieses ausnahmslos lobenswerten Solistenensembles gewesen. Als Gänse, Tauben und Hofkatze der Hexe wirkten sehr poesievoll agierende Mädchen der Ballettschule sowie der Kinderkomparserie mit und trugen ihren Anteil zum Gelingen dieser durchweg empfehlenswerten Produktion bei.
Fazit des berührenden Abends: Hingehen, anhören und zuschauen, nachdenken!
Termine: 22., 29.12.2014, 3., 11., 17., 25.1.2015