Faschingszeit wars in Deutschland – da machten sich unsere Kritiker Boris Gruhl und Peter Bäumler auf eine Entdeckungsreise nach Bratislava. Sechseinhalb Stunden braucht der Eurocity von Dresden in die slowakische Hauptstadt – Zeit zum Erinnern vor allem für den seit einigen Jahren in Dresden ansässigen Musikkritiker in Zweitberufung, Peter Bäumler. Wurde seine Mutter Nelly Bakošová doch in Bratislava einst als Koloratursopranistin gefeiert; auch Bäumlers Onkel, der Sänger, Dramaturg und Librettist Štefan Hoza, war hier mit der Familie ansässig… Wie tickt die unter Maria Theresia einst größte und wichtigste Kulturstadt des Königreiches Ungarn heute? Peter Bäumler hat es für »Musik in Dresden« festgehalten.
Historisches Theater – Historická Divadlo
Lange schon wurde an dem Ort Theater gespielt, Opern aufgeführt. Draußen vor der Stadt, am Fischertor auf den Auen zum Fluss hin, war eine holzgezimmerte Bühne aufgebaut. Eine italienische Truppe, die Mingottische Operngesellschaft (die später auch in Dresden, im Zwinger und in Pillnitz auftrat) spielten Oper mit Intermezzi, von Pergolesi soll sie gewesen sein. Anlass war die triumphale Krönung von Maria Theresia zur Königin von Ungarn: Heerscharen von Delegierten, Gesandten, Bürger und Adel kamen in die alte Donaustadt Preßburg, im Juni des Jahres 1741.
Die aufstrebende Bürgerschaft der wachsenden Stadt, die sich zu K&K-Zeiten als Vorort der nahen kaiserlichen Metropole Wien sah, erbaute sich ein festes, steinernes Stadttheater erst 1776. Deutsche, später auch ungarische Theaterensembles bespielten das Haus. Sie brachten Vielfalt und ‚Modernes‘ in das keinesfalls provinziell geführte Stadttheater. Vier Jahre schon nach seiner Berliner Uraufführung kommt »Der Freischütz« auf die Preßburger Bühne. Zu Zeiten, als die großen Bühnen Europas mit Wagner begannen, gab es Erstaufführungen von »Lohengrin« und »Tannhäuser« auch schon in Preßburg.
1886 eröffnete ein neues Stadttheater, das sich heute als das ‚Historische‘ präsentiert. Erbaut von Helmer & Fellner in eklektizistischem, damals klassischen Theaterstil mit drei Logenreihen, Parkett und Balkon mit 610 Plätzen. Die Wiener Architekten waren spezialisiert auf Theaterbauten; eine Vielzahl von Häusern im Europa des Fin de Siecle geht auf ihr Unternehmen zurück. Insgesamt 48, in Stilarten von Neorenaissance- bis Jugendstil entsprechend der Zeitentwicklung. Von Hamburg und Zürich bis Odessa und Zagreb stehen und spielen die meisten Ihrer Theatermonumente noch heute, darunter Herausragende wie das Wiener Konzerthaus, aber auch die Stadttheater und Opernhäuser Reichenbach (Liberec), Brünn (Brno), Prag (Praha)…
Überregionale Prominenz
Im Pausengeplausche, von den Sitznachbarn rechts oder links tönts ausgeprägt Wienerisch – viele Besucher kommen aus dem Nachbarland. Der Charme eines Opern- oder Ballettabends im K&K Ambiente des schönen historischen Gebäudes am eleganten Hviezdoslav-Platz Bratislavas zieht an. Gute, selbst im langjährigen Repertoire noch schmissig-frische, Inszenierungen und Ausstattung (Rezensionen siehe unten). Weitgehende Abstinenz von Experimenten des Regietheaters. Ensembleleistungen auf hohem stimmlichen und darstellerischem Niveau. Solisten kommender Weltspitze treten auf; Lucia Popp, Peter Dvorsky, Edita Gruberova debütierten an der slowakischen Oper. Dazu Kartenpreise mit Obergrenze 35 Euro für die Oper, 22 Euro fürs Ballett auch heute noch – um fast eine Potenz unter Wiener Niveau. Das Alles hält den Musiktheaterort Bratislava für Theatertourismus seit langem attraktiv.
Geburt eines Nationaltheaters
Mit der Gründung der ersten Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1919 wird aus der Dreisprachen-Stadt Preßburg die slowakische Stadt Bratislava. Das vormalig Königlich-Freistädtische-Theater formiert sich 1920 zum Slowakischen Nationaltheater – Slovenské národné divadlo SND, mit einem Schauspiel- und einem Opernensemble. Neben tschechischen Sängern debütierten im frühen Solistenensemble erste Absolventen vom Konservatorium und der Musikalischen Akademie Bratislava. Die jungen Solisten Helena Bartošová, Nelly Bakošová, Štefan Hoza, letzterer später auch als Dramaturg, Librettist und Übersetzer, und später Arnold Flögl sind maßgebend bei Indentitätsfindung und der Herausbildung einer Opernkultur in slowakischer Sprache.
Zwei Intendanten des Namens Nedbal bestimmten die Entwicklung der jungen slowakischen Nationaloper. Der europaweit bekannte Komponist und Dirigent Oskar Nedbal bis 1928, sein Neffe Karel bis zum Umsturz 1938. Unter seiner Intendanz wurden die dreißiger Jahre zur wohl inspiriertesten Ära der slowakischen Oper im Verlauf ihrer gut 85jährigen Geschichte. Vorreiter unter allen Bühnen der Tschechoslowakei, kamen hier frühe Erstaufführungen in moderner Dramaturgie des Reformtheaters auf die Bühne: Schostakowitschs »Lady Macbeth von Mzensk«, Prokofjews »Liebe zu den drei Orangen«, Aufführungen von Bloch, Ferroud, Zemlinski. Regelmäßig wechselweise Gastspiele mit Wiener Bühnen beider Ensembles, des deutschen und des slowakisch/tschechischen. Die Wiener Primadonnen Maria Németh und Jarmila Novotná gastieren in Bratislava und legendäre Weltstars wie Leo Slezák, Richard Tauber, Anton Dermota, Fjodor Schaljapin. Auch das klassische Repertoire in seiner ganzen Breite gespielt. Nur eines fehlt noch – ein slowakisch nationales Opernwerk!
Dieses sollte erst viel später, nach einem düsteren Intermezzo, kommen. In Folge Deutschlands Okkupation der Tschechei entstand 1938, sanktioniert vom Münchner Abkommen, aus dem Gebiet der Slowakei die selbständige Republik Slowakei – von Hitlers Gnaden. Die Folgen der einsetzenden Emigration vieler Künstler waren nur schwer auszugleichen. ‚Klassisch‘ war überwiegend angesagt, Zeitgenössisches durfte nur aus ‚befreundeten‘ Ländern stammen. Immerhin, »Peer Gynt« von Werner Egk wurde 1941 unter dem Dirigat des Komponisten zu einem ausstrahlenden Ereignis. Mit jungen Stimmen und Instrumentalisten vorwiegend aus den Musikerschmieden Preßburg/Bratislavas wurde das Fundament zur slowakischen Opernprofessionalität aufgebaut.
Nach dem Krieg, damit in der nun zweiten Tschechoslowakischen Republik, erfüllte sich der Traum von einer slowakischen „National-Oper“, die mit dem Musikdrama »Krútňava« von Eugen Suchoň nach dem gemeinsam mit Štefan Hoza verfassten Libretto 1949 auf die Bühne kam. Weitere slowakische Opernwerke folgten in den späten fünfziger Jahren, von denen die von Ján Cikker und Andrašovan Gelo zu nennen wären. Sie gehören heute zum Grundbestand der Repertoires an drei slowakischen Musikspielstätten – nachdem neben SND Bratislava in jenen Jahren auch eine Staatsoper in Banska Bystrica und das Staatstheater in Košice gekommen sind.
Die Ausweitung des Angebots der drei Sparten des SND Bratislava – Oper, Schauspiel, Ballett – auf weitere, teilweise Interimsbühnen in der Stadt, führten zur Planung eines neuen Theaterkomplexes für die auf 400 000 Einwohner angewachsene Stadt. 1980 schon obsiegte in einem Wettbewerb der Entwurf eines Teams slowakischer Architekten. Am Neuen Theater am Rande der Altstadt mit einem Forums-Platz zur Donau herunter wurde seit 1986 gebaut. Erst 2007 konnte der Staatspräsident den fertigen Großbau feierlich einweihen. Der lange Prozess schuldet sich den Umbrüchen der Zeit die zur stillen Revolution 1989/90 führten, der Ablösung der Slowakei aus dem Staatsgebilde Tschechoslowakei 1993, der Gründungsphase der zweiten Republik Slowakei, drei (!) Währungsreformen und in jeder dieser Phasen immer wieder der Infragestellung von Notwendigkeit, Nutzung und Finanzierung des aufwendigen Großprojekts bis hin zu einer Privatisierung. Seine Gesamtkosten kann heute niemand mehr benennen.
Unter einem sehr breiten Dach, überragt von zwei Bühnentürmen unterschiedlicher Höhe, bietet sich Raum für die Bühnen aller drei Sparten. Musiktheater und Ballett im großen Saal für 870 Zuschauer, eine Schauspielbühne mit 650 Plätzen, die Kammerbühne als Black Box für 150. Dazu Studios, Probenräume und Ballettsaal. Das allen Spielstätten gemeinsame Vestibül mit Foyer, in Carrara-Marmor deckenhoch getäfelt hellgrau, ausgelegt mit rotem Teppichbelag, stellt sich kühl-elegant dar. Insgesamt verfügt die beindruckende „Theatermaschine“ über zweitausend Räume. Beim Annähern von außen zeigt sich der Gebäudekomplex in einem ‚Aufbruch-nach-Westen‘ Stil der letzten sozialistischen Jahre, mit von Glas und Travertin bestimmten Fassaden, in post-postmoderner Anmutung, entsprechend der Zeit, in der es geplant wurde.
Die Autoren danken Frau Dr. Izabela Pažitková für Einladung, Führung und Information