„Die Wolfsschlucht war reduziert. Ich habe die ganzen Eulen-Geschichten und Feuerräder weggelassen. Und im Laufe des Weglassens haben wir dann auch den Samiel weggelassen.“ Diese Worte stammen vom Bühnenbildner Karl von Appen. Ein halbes Jahrhundert später wälzte Axel Köhler dieselbe Idee – und stopfte den neuen „Freischütz“ dann doch aus wie eine Jagdtrophäe…
„Der Freischütz“ ist ein Märchen, das nach Dresden gehört. Vielleicht taugt es besser für die Felsenbühne Rathen als für die Bretter der Semperoper, die vor dreißig Jahren mit Webers Werk wiedereröffnet wurde. Axel Köhlers Neuinszenierung kann man denn aber nicht einmal als gescheiterten Versuch bezeichnen. Eine Inszenierung fand schlicht nicht statt.
Eine zutiefst naturalistische, mit ein wenig Kitsch und Glanz veredelte Lesart, das hätte ja vor dem Hintergrund der aktuellen Inszenierungspraxis an deutschen Theatern richtig amüsant sein können! Allein, allzu auffällige Fehler in Dramaturgie und Personenregie verhinderten das Vergnügen. Dorfbewohner etwa, die durchs Fenster des Jägerhauses die mittig getroffene Zielscheibe sehen können, nach dem Schuss aber erst einmal auf den Schützen blicken und dann drei Augenblicke später konzertiert losjubeln? War das eine subtile Anspielung auf das unterwürfige Polittheater, das die Wiedereröffnung der Dresdner Oper vor dreißig Jahren begleitete? Immerhin hatte der damalige Intendant Gerd Schönfelder die Direktive ausgegeben: man wolle sich nicht auf einen musealen Opernbetrieb einlassen. Es gelte, leidenschaftlich das Gegenwartsschaffen zu fördern!
Den „Freischütz“ etwas erzählen lassen „über das Deutschsein, über unsere Ängste und Hoffnungen, über unsere dunklen Seiten“, wie es etwa Konwitschny lustvoll-provokativ 1999 in Hamburg tat? Das, muss Axel Köhler gedacht haben, würde in Dresden, würde mit Thielemann wohl nicht zu machen sein. Und kapitulierte, bevor noch die erste der sieben Kugeln verschossen war.
Als dann noch ein überdimensionaler Gummiadler aus dem Schnürboden auf die Bühne stürzte, kicherten selbst die strengsten Premierengäste. Fast hätte es Köhler geschafft, seinem Freischütz diese bittere, Konwitschnyhafte Komik zu verleihen (hat er vielleicht deshalb den langjährigen Konwitschny-Dramaturgen Werner Hintze engagiert?). Eine clevere Dekonstruktion hätte das werden können. Hätte. Denn immer, wenn man kurz davor war, laut loszulachen, bemühte sich der Regisseur hastig, doch noch die Kurve in die naturalistische Ernsthaftigkeit zu kriegen. Als dann kurz vor Ende des ersten Aktes B52-Bomber durch die Wolfsschlucht flogen, während eine computerverstärkte Stimme aus den Lautsprechern die Freikugeln zählte, wollte man verzweifelt rufen: „Samiel, nu hilf doch endlich!“ Es half nichts. Samiela, die bocksbeinige Wirtin, die den ganzen Abend lang zu unpassenden Momenten durch die Szenerie stakste, wusste selbst nicht so richtig, was sie da eigentlich sollte. Von der angekündigten Rubensfigur, die sinnfällig gemacht hätte, warum Kaspar sich in Kriegszeiten mit ihr einließ, jedenfalls keine Spur. Gut, auch das hätte mit ein wenig mehr Mut eine schöne Parodie auf Castorfs stummen Statisten im Bayreuther Ring werden können. Hätte…
Nun, immerhin hat es der Regisseur und Intendantenanwärter geschafft, mit seinem „Freischütz“ sämtliche Probleme sichtbar zu machen, die das Haus momentan umtreiben: Führungslosigkeit, Angst vor dem Ausbruch der eigenen Courage und dem Dresdner Opernpublikum, zu guter Letzt vielleicht einfach nur eine große Ratlosigkeit dem romantischen Werk gegenüber. An die technisch ausgeklügelten Bühnen von Heike Scheele für Stefan Herheim kommt Arne Walthers Umsetzung nicht heran. Die feine Prise moderner Entspanntheit, die Katharina Weissenborn spendiert, ließ den verstaubten DDR-Naturalismus der Kostüme nur noch deutlicher hervortreten. Und der nicht enden wollende Jubel, die stehenden Ovationen für den Dirigenten? War er tatsächlich dem Klang geschuldet, der am Premierentag aus dem Graben drang? Das war ein bedächtiger, wagneresk beladener Weber, der von seinen Mozart-Wurzeln kaum mehr etwas wissen wollte. Folglich war der von Jörn Hinnerk Andresen in den Proben ordentlich angespornte (Jäger)chor den Orchesterkollegen immer eine Spur voraus und zerrte immer verzweifelter an der Tempoleine. Vielleicht war dieser Klatschausbruch auch ein flehendes „Hiergeblieben – Thielemann, wir brauchen Sie, das merken Sie doch!“.
Schloss man die Augen, so konnten an diesem Abend vor allem die Stimmen überzeugen. Sara Jakubiak war als Agathe so rührend dorfmädchenhaft, dass ihr amerikanischer Dialekt in den Rezitativen ihre Naivität noch unterstrich. Vor allem die leisen Passagen gestaltete sie mit größtmöglicher Präzision. Christina Landshamer als Ännchen war fast schon bübisch, stimmlich einfach verdammt gut gelaunt. Georg Zeppenfeld als kerniger Bösewicht Kaspar jagte mit jedem Wort neue Schauder über die Rücken der Zuhörer. Großartig auch Andreas Bauer als Eremit. Für einige Augenblicke machte er zum Schluss die Schwächen des Abends vergessen. Der von Michael König gesungene Max dagegen schlich stimmlich und schauspielerisch trübe über die Bühne. Man wusste nie so recht, ob denn nun eher die Figur oder der Sänger von Versagensängsten gejagt waren. Ähnlich matt blieb Kuno, gesungen von Albert Dohmen. Und was nützen einem die großen Stimmen, wenn die A-Besetzung samt Thielemann insgesamt nur drei mal zu erleben sind? Ab nächster Woche übernehmen die hauseigenen Kräfte. Dann sind die Dresdner auch wieder hübsch unter sich.
Oleg Jampolski & Martin Morgenstern