Ladies first: Erinnern Sie sich noch an das einmalige Konzert von Juliette Gréco im Herbst 2004? sicherlich gibt es unterschiedlichste Reminiszenzen an diesen Abend. Ein formvollendeter Handkuss und die wohl größten Augen einer legendären Sängerin haben sich mir eingeprägt. Und die Sorge um eine Grande Dame, die mitten im Konzert plötzlich einen Schwächeanfall gespürt hat und den Auftritt im Dresdner Kulturpalast ziemlich abrupt beenden musste.
Ein zuvor versprochenes Interview hat sie nach kurzer Erholungspause – war es mit Wasser oder war’s doch Champagner – souverän absolviert. Mehr als zehn Jahre ist das jetzt her. Und nun spricht die französische Chansonnette von endgültigem Abschied. Ein Jahr lang, bis April 2016, „vielleicht auch noch länger“ werde sie unterwegs sein. Nein, kein weiteres Dresden-Konzert, die einzige Deutschland-Station ist schon in zwei Tagen Frankfurt am Main. Danach geht es auf die große Tour, Stationen sind beispielsweise Israel und Kanada. Etwa 25 Konzerte sollen da zusammenkommen. Für ihr weltweites Publikum, das dürfte heute schon feststehen, immer noch viel zu wenig.
Überschrieben ist die Abschiedstournee mit einem Dankeschön: „Merci“. Madame will sich für’s Leben bedanken: „Für das wundervolle Leben, das ich führen durfte – mit meinen Komponisten, meinen Autoren und meinem Publikum. Ich möchte nicht Adieu sagen, ich möchte einfach Danke sagen.“
Juliette Gréco ist 1927 in Montpellier geboren und sang sich in ihrer gut sechseinhalb Jahrzehnte währenden Karriere in die Herzen der Welt. Von Pariser Kneipen aus eroberte sie sich in zahlreichen Ländern ein begeistertes Publikum und die größten Konzertsäle. Dass auch Dresden mal eine Station gewesen ist, sollte im Nachhinein alle froh machen, die mit dabeigewesen sind. Was haben wir gebangt um diese fragile Person! Doch sie schöpft ihre Kraft aus der Musik und stellt sich stark gegen die Gefährdungen unserer Welt. Heute sagt sie mit sehr wachem Geist: „Ich mache mir große Sorgen. Die Welt spielt verrückt, sie ist in Brand geraten. Wir begeben uns zurück in die Welt der Barbarei. Ich bin sehr besorgt und erschrocken über den Zustand der Welt. Ich habe mich noch nie vor etwas gefürchtet im Leben, heute fürchte ich mich. Ich habe wirklich Angst.“
Ihrer – leider nur allzu berechtigten – Angst vor der um sich greifenden Barbarei setzt sie die Kraft der Musik entgegen. In einer Welt, wo aufmüpfige Sängerinnen und Sänger eingesperrt werden, wo Singen schlimmstenfalls lebensgefährlich sein kann. Wer Musikschulen, Orchester und Opernhäuser in ihrer Existenz beschneidet, sollte auch daran mal einen Gedanken verschwenden. Das wirklich Weite ist nämlich immer ganz nah.
Insbesondere an einem Tag wie heute, siebzig Jahre nach dem Ende eines Regimes, in dem zwar gesungen wurde, was das treudeutsche Herz hergab, ansonsten aber verboten war, was Herz und Geist wirklich ansprach – an solch einem Tag könnte man ja mal einstimmen in einen Chor, der die blödsinnige Dumpfheit aufrüttelt und die Volksseele zum Nachdenken bringt.
An diesem Tag der Befreiung, die Geschichte ist manchmal makaber, ist ein Befreier geboren, dessen Streben und Tun stets ganz aus dem Geist der Musik kam. Keith Jarrett, ebenso Genie wie Phänomen, er gilt zu Recht als „Geburtshelfer“ einer freien, die Sinne nicht nur ansprechenden, sondern sie immer wieder auch öffnenden Musik. Seine Konzerte sind andächtige Rituale, seine Schallplatten und CDs konservierte Feierstunden bezwingender Momentaufnahmen.
Zum 70. Geburtstag serviert der am 8. Mai 1945 in Pennsylvania geborene Pianist, Improvisator und Interpret – von Bach und Händel bis hin zu Bartók und Schostakowitsch reicht sein OEuvre! – zwei neue Alben und besondere Angebote für seine Fans. Bei iTunes und Facebook gibt es spezielle Offerten für Fans, der langjährige Partner ECM hält ab sofort „Creation“ und „Barber/Bartók/Jarrett“ bereit. Als da sind das 22. Soloalbum, bestehend aus dem Extrakt sechs zusammengeschnitter Konzerte des Jahres 2014, und vor gut drei Jahrzehnten entstandene Aufnahmen mit Klavierkonzerten von Samuel Barber und Béla Bartók.
Wenn wir uns zur Geburtstagsfeier von Jarrett nun dennoch sein legendäres „Köln Concert“ von 1975 anhören, dann mag das mit ganz persönlichen Bezugspunkten zu tun haben. Interessant wäre freilich, wie oft gerade dieses immerhin rund vier Millionen mal verkaufte Album zur Zeugung von Nachwuchs angeregt hat. Keith Jarretts weit über den klassischen Jazz hinausgehende Entwicklungen beinhalten dem Jazzexperten Bert Noglik zufolge „Töne wie Samenkörner“. Wir können ein Lied davon singen.
Zwei Solokonzerte gibt es im Geburtstagsjahr von Keith Jarrett auch in Europa: Am 18. Mai spielt er in Neapel, am 22. Mai ist er in Luzern zu hören. Deutschland – nach dem unvergesslichen Auftritt in der Berliner Philharmonie, wo die ehrfürchtige Hörerschaft ausgewickelte Hustenbonbons und lose Papiertaschentücher bereithielt, um nur ja nicht zu stören – steht dieses Jahr nicht auf der Agenda dieses Genies.
Bis nächsten Freitag –
Michael Ernst