Drei Wochen nach „Die Stimme des Kindes“ hatte sich der Universitätschor Dresden „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn“ als Titel des Programmes gewählt. Plakat und Programmheft zeigten ein schreiendes Gesicht, schmerzvoll verzerrt, verzweifelt. Löst man sich vom Bild, muss der Schrei nicht zwangsläufig zu hören sein, können die Worte als innere Stimme verstanden werden. Als Frage nach der eigenen Orientierung, nach Verankerung, Zusammenhalt, Endlichkeit. Gedanken dieser Art standen im Zentrum der Werke des Konzertes. Drei davon – allen voran Alexander Keuks zu diesem Anlass uraufgeführtes Auftragswerk „Statements“, betonten als Vertonungen von Texten und Gedichten den Wortbezug besonders.
Die Grundfrage der ausgewählten Texte galt der Endlichkeit des Daseins, der Vergänglichkeit alles Irdischen, aber auch dem Wohin, der Suche nach Trost. Engel sind für Lebende und Tote gleichermaßen da und versetzten uns – so man ihnen tatsächlich begegnete – eher in Schrecken, als dass sie Trost spendeten. Diesen Gedanken hatte schon Rilke in seinen „Duineser Elegien“ aufgegriffen. Dem Beginn des Textes „Wer, wenn ich schriee…“ wurde auch der Programmtitel entnommen. Einojuhani Rautavaara, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten Finnlands, hatte sich bereits früher mit Rilke-Texten befasst. Die Vertonung der ersten Elegie von 1993 ist ganz von Melodien bestimmt, obwohl das Werk den Gesetzen der Zwölftonmusik folgt. Frauen- und Männerstimmen schaffen diese Melodien gemeinsam. Dabei streicht Rautavaara Symbole besonders heraus („das Schöne“, „schrecklich“ und „Baum am Abhang“). Der Universitätschor unter Leiterin Christiane Büttig gestaltete das a-capella-Werk expressiv und schärfte die Gegensätze von Schatten und Licht, mit „tröstet und hilft“ fand es einen verheißenden Schluss.
Francis Poulencs „Litanies à la Vierge Noire“ (die Litanei an die schwarze Jungfrau) ist unter dem Eindruck des Unfalltodes Pierre Octave Ferrouds entstanden. Ferroud war ein enger Freund Poulencs, der von dessen Todesnachricht tief betroffen gewesen ist. Letztendlich führte das Ereignis zu einer Umkehr in Poulencs Leben und zur Wiederhinwendung an den katholischen Glauben, aber auch zur Komposition der „Litanies“. Über weite Strecken eine Bitt-Litanei, vermischen sich im Text auch Klage, Angst und Gebet. Jeweils dreifach werden „Königin“, „Unsere liebe Frau“ und „Lamm Gottes“ angerufen. Erneut gestaltete der Chor ausdrucksstark und farbenreich. Die hinzugekommene Sinfonietta hatte, vor allem zu Beginn, nicht für die Melodie, sondern für klangliche Effekte zu sorgen, bevor sich Sänger und Orchester am Schluss sanft mischten. Trotz Fremdsprachen (Französisch, später auch Lateinisch und Englisch) blieb der Universitätschor stets klar in der Aussprache.
Im Mittelpunkt des Abends stand Alexander Keuks „Statements“, ein Werk, dass er für diesen Chor und für dieses Konzert geschrieben hat. Ein Text Charles Dickens‘ („A Tale of two Cities“ / „Eine Geschichte aus zwei Städten“) war Ausgangspunkt für das Werk, dem der Komponist aber noch andere voransetzte. Auch er griff Rilke auf, stellte ihm jedoch mit Fernando Pessoa und Jakob von Hoddis zwei weitere, ganz unterschiedliche Autoren gegenüber. Während Rilke und Pessoa, deren Texte Keuk in der ersten Strophe zusammenführt, Diesseits und Jenseits ganz unterschiedlich beleuchten, nimmt Jakob von Hoddis in „Andante“ den Gedanken die Schwere, verschiebt den Akzent vom inhaltlichen Gehalt auf das Spiel mit den Worten. Alexander Keuk lässt die Männer zunächst (aus dem Vorraum) singen, schließt die gregorianische Tradition ein, fügt aber mit den Strophen und Sichtweisen der beiden Dichter neue Elemente hinzu, auch Sprechgesang, der Frauenchor entschleunigt den Text unendlich langsam, der Männerchor erzählt deklamierend. Ganz klar: die Musik steht hier im Dienst des Wortes, „Warum?“ und „scheinbar“ werden elementar. Im Mittelpunkt dabei ist der Chor, mit Glöckchen ausgestattet im ersten Teil, a capella wiederum im zweiten. Schön: Fluss und Witz des Gedichtes von Hoddis‘ bleiben durch das Werk erhalten, das melismatisch gedehnte „frohem“ scheint doppeldeutig: Rilke sagt „Vereine“ – eine Anspielung auf den Chor? Dickens‘ Text wiederum greift verschiedene Zeiten, Epochen, Abschnitte und Ziele auf, stellt deren Gegensätze dar. Diese Gegensätzlichkeit greift Alexander Keuk auf, verzerrt Töne, schafft aus „Licht“ und „Dunkelheit“ das Chaos des Aufruhrs. In „Hoffnung“ und „Verzweiflung“ finden die Stimmen wieder aus dem Chaos heraus. Für besondere Klangeffekte setzt er auch Harfe und Orgel ein, vermeidet aber eine Verklärung des Gedankens. Christiane Büttig und ihre Chorassistenten hatten das Werk sorgsam vorbereitet und Wert auf das rechte Maß gelegt. Nicht allein die Betonung des Wortes, auch die Transparenz der Botschaft, eines Hintersinns, konnten Chor und Sinfonietta vermitteln.
Von den vorangegangenen Werken, am stärksten von „Statements“ abweichend, war das abschließende „Requiem“ Maurice Duruflés. Die französische Tradition dieser Werke aufgreifend (und auf ein Dies Irae verzichtend) hat der Komponist 1961 ein chorsinfonisches Werk geschaffen, welches dem Klang gegenüber dem Wort klar den Vorrang einräumt. Auch hier findet sich ein Rückgriff auf die Gregorianik, doch gestaltet Duruflé mit satten, üppigen Farben, süffig und geradezu betörend vorgetragen von Chor und Orchester. Mit Mezzosopranistin Britta Schwarz hatte man eine Interpretin gefunden, die mit Innigkeit berühren und mit Klang den Raum zu füllen verstand. Mit bestens präparierten Blechbläsern konnte sich das Werk geradezu prachtvoll entfalten. Duruflé wollte den Zuhörer durchaus nicht benebeln, scheint im Gegenteil mit Bekenntnis und Ironie zu spielen, ein Mitdenken zu erwarten. Das in den Teilen weggelassene „Dies Irae“ findet sich im Text des „Libera me“ wieder – hier wird die Musik – zum einzigen Mal in diesem Konzert – zum Schrei.
Schiff und Emporen waren gut besetzt, erstaunlich viel Publikum hatte sich von den enormen Temperaturen nicht abschrecken lassen. Die Neugier, auch auf das neue Werk, war wohl groß gewesen, sie wurde nicht enttäuscht – viel Applaus und Zuspruch.
Wolfram Quellmalz