Das Tanzen höret nimmer auf.
Es ist ein lange gepflegtes Missverständnis, dem in letzter Zeit immer kräftigere Korrekturbeispiele entgegenstehen, dass Tanz und Alter nicht zusammen gehen. Tanzen, das ist die Sache der Jungen, mag sein, dass bei der Familienfeier auch mal die Oma mit dem Opa eine Sohle aufs Parkett legt, aber der professionelle Tanz, das Ballett gar? Das ist nichts für die Alten? Ist es doch! Mit einem der ungewöhnlichsten Tanzereignisse ging für mich das letzte Jahr zu Ende und mit einem eben so ungewöhnlichen Ereignis hat das neue Jahr begonnen. Und jedes Mal waren es ältere Tänzerinnen und Tänzer, deren Kunst mich zutiefst berührt hat.
Aber alles hat eine Vorgeschichte. Im Sommer, bei den Balletttagen in Hamburg, ergab sich die Möglichkeit zu einem kurzen Gespräch mit dem Tänzer Egon Madsen. Fast fünfzig Jahre war es her, dass ich ihn, damals als jungen Tänzer, beim Gastspiel des Stuttgarter Balletts, im Großen Haus, heute Schauspielhaus, in John Crankos Choreografie »Romeo und Julia« gesehen hatte. Ich war damals ja eigentlich nur dabei, weil Freunde mich bedrängt hatten; bis dahin hatte ich vom „Stuttgarter Ballettwunder“, von den dortigen Stars und Erfolgen, eigentlich nichts gehört. Aber damals muss es wohl begonnen haben, diese Faszination für den Tanz, für das Ballett insbesondere, für diese Kunst ohne Worte – damals war das auf jeden Fall noch so – die mich dann auch bis heute nicht verlassen hat und jetzt für mich, selbst ganz schön alt geworden, noch einmal von besonderer Bedeutung ist.
Aber zurück zu Egon Madsen und dem kurzen Gespräch in Hamburg und den damit verbundenen Erinnerungen. Ich hatte ihn vor sieben oder acht Jahren, damals war er auch schon über 65 Jahre alt, zusammen mit dem gut 25 Jahre jüngeren Tänzer Eric Gauthier im Theaterhauses in Stuttgart, in Christian Spucks Choreografie »Don Q.« gesehen. Ein wunderbares Tänzerendspiel, Don Q. und Sancho Panza als Widergänger von Becketts Philosophenclowns Estragon und Vladimir.
Eine Szene ist in besonders starker Erinnerung bei mir. Diese beiden Tänzer ersparen sich eigentlich nichts in diesem Stück. Der Alte macht dem Jungen klar, was er alles nicht weiß – und der Junge darauf dem Alten, was er alles nicht mehr kann. Und dann geschieht so ein Tanzwunder. Der Junge hats dem Alten mal wieder so richtig gegeben, und der kennt auch keine Gnade beim Austeilen. Aber dann, ganz unauffällig, auch ein wenig verschämt, streckt der Alte dem Jungen die Hand entgegen, nicht auffällig oder demonstrativ, er muss es schon spüren, und dann, fest gehalten an der Hand des Alten, kann der Junge die herrlichsten Sprünge vollführen.
Siebzig Minuten währte dieses glückliche Endspiel. Und ich habe selten so glücklich ein Theater verlassen. Da hatten diese Narren, diese Tänzer, diese Fabulierer, ein Fenster weit aufgestoßen im Horizont des Alltäglichen und haben sie uns am Abend lachen lassen über Dinge, die uns am Tage Angst machen.
Als ich Ende des letzten Jahres wieder im Theaterhaus Stuttgart war, weil Egon Madsen, jetzt über 70 Jahre alt, angekündigt wieder zu tanzen, erlebte ich erneut so ein glückliches Endspiel. Das neue Stück heißt »Egon Madsen´s Greyhounds« und es beginnt mit typischen Fragen: Warum nur, warum nicht einfach aufhören, man ist doch alt genug, man hat doch genug Schweiß und Tränen vergossen in einer Tänzerlaufbahn, ganz zu schweigen von dem harten Preis, den man bezahlt hat, den Schmerzen, den Verletzungen, der Angst vor dem Auftritt, warum hören wir nicht einfach auf? Aber spätestens dann, wenn Egon Madsen und seine ebenfalls über siebzig Jahre alte Partnerin Marianne Kruuse, einst Star des Hamburger Ballettes bei John Neumeier, ihre so persönliche wie authentische Version des von John Neumeier 1968 für sie geschaffenen Pas de deux aus »Separate Journeys« zum melancholischen Fluss der Musik von Samuel Barber zeigen, dann gleicht dies einem neuen Stuttgarter Tanzwunder.
Man erlebt die Essenz des Tanzes, die Vergegenwärtigung einer Erinnerung ohne jede Verklärung, weil sich beide Künstler zu dem bekennen, was ihre Körper jetzt zu leisten vermögen. Da ist so viel Zärtlichkeit, so viel Vertrauen in die Ausdrucksmöglichkeiten dieser wortlosen Kunst, dass man in solchen Augenblicken höchster Konzentration die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Spätestens jetzt ist die Eingangsfrage nach dem Warum beantwortet. Weil sie sich gar nicht mehr stellt.
Und Zufall oder gutes Zeichen für das Tanzjahr 2016: letzten Montag habe ich aus Paris berichtet, vom Abschiedsabend für den siebzigjährigen Tänzer und Choreografen Mats Ek. Auch hier gab es eine Hommage an das Alter, denn die Frau des Choreografen, Ana Laguna, tanzte mit sechzig Jahren eine eigens für sie und ihren über fünfzigjährigen Tanzpartner Yvan Auzely geschaffene Kreation. In gewisser Weise ein Wiedererkennungsprozess, denn auch hier ist es nicht die technische Brillanz, die diesen Tanz so eindrücklich macht, es ist diese ganz andere Art der Intensität, es ist die tänzerische Kraft des Widerstandes und des Einverständnisses als Quelle der Energie, wie sie von solchem Tanz ausgeht. Da trifft es sich doch gut, dass noch im vergangenen Jahr der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages beschlossen hat 1,5 Millionen Euro für ein Pilotprojekt des Tanzes in Deutschland zur Verfügung zu stellen. »DANCE ON« heißt das Projekt, und im Mittelpunkt steht der große Erfahrungsschatz und die Ausdrucksstärke von Tänzerinnen und Tänzern, die über vierzig Jahre alt sind. Der ehemalige Forsythe-Tänzer und stellvertretende Direktor der inzwischen aufgelösten Company, Christopher Roman, leitet das Projekt mit einem eigens zusammengestellte Ensemble über vierzigjähriger Tänzerinnen und Tänzer. Für den Herbst dieses Jahres ist das erste Festival geplant.