Hätten die Verursacher dieses Theaters mit der Regisseurin Elisabeth Stöppler sich nicht mit verbundenen Händen zum Schlussapplaus zeigen müssen? Die Nadeln, mit denen diese „relative Vernichtungstheorie“ notdürftig zusammengestrickt wurde, müssen mächtig heiß gewesen sein. Zudem wurde offensichtlich bis zur letzten Minute gehäkelt; ein Einlegezettel im Programmheft informierte darüber, dass sich Konzept und die damit verbundene Präsentation des Projektes kurzfristig in wesentlichen Punkten verändert haben.
Am Anfang stand wohl die Idee, Nikolai Rimsky-Korsakows Kurzoper »Mozart und Salieri« nach der gleichnamigen »Kleinen Tragödie« Alexander Puschkins zu inszenieren. Dann wollte man daraus eine große Tragödie machen. Das Minimusiktheater nach Puschkin nimmt zwar die schon zur Zeit der Uraufführung, 1898 in Moskau, längst widerlegte Legende auf, dass Salieri Mozart ermordet habe, stellt aber eigentlich den Widerspruch zwischen Genie und Mittelmaß in den Vordergrund und ließe durchaus Interpretationen auf damit verbundene Gefahren und tödliche Konflikte in der Geschichte der Menschheit zu. Was in der Berliner Musiktheaterwerkstatt der Staatsoper auf der Vorderbühne des Schillertheaters mit einem noch spielerischen Prolog der Tasten-Variationen beginnt, setzt sich szenisch konkreter dann in dem Operneinakter fort. Wenn der Tenor Stefan Rügamer als Mozart an einem Minipiano in sechs Variationen ein Thema von Salieri veredelt, und diese Musik am Flügel und am Klavier schon rein instrumental in neue Epochen transponiert wird, wenn Vibraphon und Akkordeon Jazz und Weltmusik anklingen lassen, dieweil der Bariton Roman Trekel als verbitterter Salieri am Tisch sitzt und auf Eingebung hofft, ist der folgende Konflikt vorprogrammiert.
Jetzt aber beginnen auch die Probleme. Stefan Rügamer kann den Anforderungen der Regisseurin nur bedingt entsprechen, das unangepasste Genie wie einst der Schauspieler Tom Hulce in Miloš Formans Film nach Peter Shaffers Stück zumindest ansatzweise glaubhaft zu machen. Das bleibt ein Krampf im Kampf mit den Vorgaben. Roman Trekel als Salieri bleibt unauffällig: das Gift lässt er im Labor entwickeln, wo schon mal die apokalyptischen Gase des 20. Jahrhunderts aus den Retorten wabern. Einstein geigt wie bei Dürrenmatt und fragt bei Siegmund Freud per Brief an, „Warum Krieg?“ Jetzt kommt die Schauspielerin Angela Winkler dazu und zitiert aus den psychoanalytischen Erläuterungen zum Konflikt zwischen Liebe und Gewalt, der Drang zu letzterer ist dem Menschen immanent, die Liebe bleibt auf der Strecke. Das haben wir verstanden.
Eigentlich sollten ja noch Jesus und Stalin auftreten; die sind aber gestrichen. Immerhin wird der Gottessohn mit dem Gebot der Nächstenliebe zitiert, die Dornenkrone als Requisit benutzt. Später, als Angela Winkler aus Dostojeweskijs »Die Brüder Karamasow« die Legende vom Großinquisitor im Kinderfunkton rezitiert, wird der Messias ja ohnehin von diesem als militantem Vertreter der von ihm gegründeten Erlösungsinstitution in die Wüste geschickt. Über dieser Wüste, in die sich die Darstellerin einsam als guter Hirte a la Joseph Beuys aufmacht, verdunkeln die Wolken einer Atombombenexplosion der Fotoprojektionen von Anja Niedrighaus den Himmel für immer. Dazu dann als musikalische Uraufführung und Epilog »Requiem-Filtrage« von David Robert Coleman für Kammerorchester, Solisten und Elektronik zu aus der Ferne zugespielten Fetzen einer Aufnahme des Requiems von Mozart aus dem Kriegsjahr 1941.
Es bleiben starke Erinnerungen an die von Max Renne dirigierte collagenhafte Korrespondenz des Streichquartetts Nr. 8 c-Moll op. 110 von Dmitri Schostakowitsch mit Rudolf Barschais Bearbeitung für Streichorchester als Kammersinfonie, sofern Frau Winkler nicht dazu in melodramatischen Missverständnissen agiert. Am Ende bleibt der »Mord an Mozart« indes nicht mehr als ein reißerisches Wortspiel. In der szenischen Realisierung dieser relativen Vernichtungstheorie, im Kampf des Mittelmaßes gegen das Genie, setzt sich das Mittelmaß durch.