Ausgerechnet in seinem Jubiläumsjahr soll der bedeutendste Dresdner Knabenchor hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückbleiben? Es sei einmal dahingestellt, wann er nun tatsächlich gegründet worden ist. Aber da er gerade mal wieder ein Jubiläum begeht – das wievielte in den vergangenen 100 Jahren? –, da sollte er doch auch wirklich glänzen. Stimmlich sowieso, aber auch in der außerkünstlerischen Ausstrahlung. Kreuzchor, Kreuzkirche und Kreuzschule werden dieser Tage mit einer Festwoche gewürdigt, in der die Uraufführung eines ehemaligen Kruzianers erklang. Aber warum? Weil die Dresdner Philharmonie (gemeinsam mit dem Spokane Symphony and South Carolina Orchestra) den Kompositionsauftrag zu diesem Konzert erteilte. Der Uraufführungsort Kreuzkirche dürfte wohl lediglich der Baustelle des Kulturpalastes geschuldet sein.
Immerhin soll zum Sommer noch ein neues Chor-Werk herauskommen, geschrieben von Karsten Gundermann, ebenfalls ehemaliger Kruzianer, der, ähnlich wie Torsten Rasch, viel Zeit im Fernen Osten zugebracht hat. Asien zählt längst auch zu den bevorzugten Reisezielen des Chores, den man dort ähnlich gern hört wie die Thomaner. Die hatten sich zu ihrer 800-Jahr-Feier vor vier Jahren gleich ein ganzes Feuerwerk von Auftragswerken und Uraufführungen gegönnt. Schließlich gehört das, was heute als zeitgenössische Musik umschrieben wird, traditionell zur Geschichte derartiger Chöre. Dass die Dramaturgie der Kruzianer ausgerechnet im Jubiläumsjahr nicht deutlich aufgeweckter agiert, verwundert. Indes gibt sich der Chor im Internet ausgesprochen modern, was die PR-Manager leider mit billigem Mainstream verwechselten. In einer allen Ernstes als »Look & Feel« betitelten Rubrik werden belanglose Image-Filmchen über das Leben der Knaben sowie zu Sponsoren-Produkten gezeigt, produziert von kreuzchor.tv in einer aberwitzigen Konstellation mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen – das für die Nachnutzung dieser Spots sogar noch zur Kasse gebeten wird! Dazu erklingt billige Fahrstuhlmusik. Die Kreuzkirche erscheint nur mal im Schwenk. In einem kurzen Zusammenschnitt des Festakts (in der Semperoper!) sind immerhin auch mal Kruzianer zu hören.
Stets im Zeichen des Kreuzes
Fakt ist: der Kreuzchor war schon immer ein wichtiger Sendbote der Stadt – und wirkte die längste Zeit seines mutmaßlich 800jährigen Daseins auch in ebendiese Stadt hinein. Sowohl musikalisch als auch im übertragenen Sinn stand er stets im Zeichen des Kreuzes. Just im Jubiläumsjahr soll das nun anders werden: Die aktuelle Image-Broschüre kommt ganz ohne Kreuz aus, der erwähnte Auftritt im Netz zieht werbewirksam nach. Ein Slogan wie dieser klingt ganz so, als stamme er aus der Automobilindustrie: »Großartige Tradition. Premium-Anspruch im Heute. Das ist die gemeinsame DNA.« Ach du Heiliger.
Derart holpernde Marketing-Ansätze sind die eine Sache. Der Dresdner Chor gerät zunehmend von verschiedenen Seiten auch deswegen in die Kritik, weil er sich angeblich von seinen religiösen Traditionen lösen und zu viel weltliche Musik aufführen würde. Beileibe nicht nur kirchennahe oder gar frömmelnde Kritiker sind darüber äußerst verwundert, dass die Kruzianer an Orten musizieren, die ihrem Anspruch und ihrer Verpflichtung nicht angemessen zu sein scheinen. Aufgrund von fragwürdigen Auftritten in einem Fußballstadion sowie beim Opernball wirkt die jüngste Kreuzchor-Entwicklung zwischen Tradition und „Verweltlichung“ durchaus befremdlich. Da wird gefragt, warum sich just der Dresdner Kreuzchor von seinen kirchlichen Inhalten entferne.
Kreuzchor nun ohne Kreuz?
Tradition bedeutet natürlich nicht, dass alles so bleibt, wie es immer schon war. Doch ausgerechnet zum 800jährigen Bestehen des Chores scheint er auf „modern“ gebürstet zu werden. Der Kreuzchor ohne Kreuz? Vielleicht nur ein Ausdruck dafür, dass der Chor in der Jetztzeit, im Heute angekommen ist? Nein, selbst Zeitgenossen, die solche Symbole gewiss nicht vermissen würden, haben durchaus verinnerlicht, wie sinnfällig es ist, dass gerade dieser Chor – bei aller Modernität – durch alle Zeitläufte hindurch auf seine religiöse Tradition rekurriert. Daher muss es noch die aufgeklärtesten Musikliebhaber verwundern, wenn die Knaben nun zum Marketinginstrument der Stadt Dresden verkommen sollen – und sich so von ihren ureigentlichen Positionen entfernen.
Für sehr viele Menschen war das Adventskonzert 2015 ein großer Schreck, als der Kreuzchor plötzlich im Fußballstadion vermarktet wurde. An und für sich sollte das ja kein großes Problem sein, schließlich existiert hier ein Podium für große Menschenmassen, also für möglicherweise auch neues Publikum – doch die Art und Weise der Präsentation von Kruzianern mit einem säuselnd blonden Schlagersternchen und billiger Bandbegleitung war peinlich und hat nicht nur Puristen verstört.
Hier wurden die Knaben wirklich „verheizt“. Aber warum? Weil Kreuzkantor Roderich Kreile eine fragwürdige Liaison mit windigen Marketingstrategen eingegangen ist? Kreile lobte diese Aktion im Nachhinein damit, dass dabei ein (ein!) neuer Kruzianer gewonnen worden sei. Mit ähnlichen Worten kann man gewiss auch den Auftritt des Chors zum Opernball schönreden. Dabei müsste doch gerade der Kreuzkantor selbst die Fahne hochhalten für ein waches Bekenntnis zur gelebten Tradition – also auch zur Religiosität dieses Chores. Statt dessen nennt er sich nach fast zwanzig Jahren im Amt nun plötzlich Intendant, weil das Wort Kreuzkantor seiner Meinung nach international nicht bekannt sei. Das klingt nach einem drastischen Missverständnis. Wer dies freilich in aller Vorsicht bemäkelt, wird abgestempelt als Traditionalist, der Neues für Teufelswerk hält. Noch so ein Missverständnis. Sollte sich das Neue nicht aus den Grundlagen speisen, auf deren Boden es gewachsen ist?
Natürlich ist der Chor stets eine Art Botschafter für Dresden, wenn er im In- und Ausland zu Gast ist. Aber ob in Asien oder in Europa – der Kreuzchor wird doch gerade für seine Tradition, für die über all die Jahrzehnte gewachsene Klangqualität gefeiert – die nun wirklich nicht auch noch verloren gehen darf! Aber gibt es momentan eigentlich eine fundierte Auseinandersetzung um das Klangbild des Chores? Um die Weiterentwicklung im Licht aktueller stimmbildnerischer und gestalterischer Geschmacksvorlieben? Um eine kritische Aufarbeitung der Klangvorstellungen verschiedener Kreuzkantoren anhand von Plattenaufnahmen der letzten achtzig Jahre, zuletzt gar der Repertoirepflege an den verschiedenen gesellschaftlichen Einflussnahmen vorbei? Mitnichten! Die Diskussion dreht sich momentan darum, ob bei den Kreuzchorvespern nicht eine buntere Beleuchtung angebracht wäre, oder welche Kleidung die Kruzianer zu welchen Anlässen tragen sollten. Und – ob das Kreuz im Logo eigentlich noch zeitgemäß ist. Really? Bitte, liebe Kruzianer: lasst uns endlich auch wieder über Musik sprechen.
Öffentliche Veranstaltungsreihe: KREUZSPLITTER
„Zwischen Hitler-Jugend und FDJ- Grundorganisation“
28.04.2016, 19 Uhr
Großer Probensaal des Dresdner Kreuzchores, Eingang Ermelstraße 3 – 5; Hausaufgang 7
Weiterführende Literatur:
Herrmann, Matthias; Härtwig, Dieter. Der Dresdner Kreuzchor: Geschichte und Gegenwart. Wirkungsstätten und Schule. Evangelische Verlagsanstalt, 2006.
Herrmann, Matthias. Rudolf Mauersberger: Aus der Werkstatt eines Kreuzkantors – Briefe, Texte, Reden (Schriften des Dresdner Kreuzchores). Tectum, 2014.
Magirius, Heinrich. Nachkriegszeit im Dresdner Kreuzchor, Sax-Verlag, 2015.
Hofmann, Erna Hedwig. Kreuzchor Anno 45. Ein Roman um den Kantor und seine Kruzianer. Union Verlag, 1970 (3. Aufl.).
Socher, Otto. 700 Jahre Dresdner Kreuzchor. Selbstverlag des Kreuzchors, 1937.
Buddrus, Michael. Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik. De Gruyter Saur, 2003.
Wilms, Eberhard. Gelebte Geschichte – Eine Jugend in Deutschland 1940-1961: Königsberg – Dresden – München. Book on Demand, 2011.
Christoph Münchow: Im Dreiklang bis heute: Dresdner Kreuzchor, Kreuzkirche Dresden, Kreuzgymnasium Dresden. Saxo-Phon, 2015.