Im Schauspielhaus bot die Dresdner Philharmonie ein Konzert mit Werken von Franz List. Der einst berühmte Klaviervirtuose von europäischem Rang hat sich später auch als Komponist einen Namen gemacht. Er propagierte die Form der Sinfonischen Dichtung. Zwölf solcher Werke legte er zwischen 1848 und 1858 vor. Die vierte galt der »Orpheus«-Sage. Als er in Weimar als Hofkapellmeister wirkte, bemühte er sich auch weniger bekannte Werke der Vergangenheit wiederzuentdecken. So bereitete er 1854 die Wiederaufführung von Glucks »Orpheus und Eurydike« im Weimarer Hoftheater vor. Bei der Beschäftigung mit dem Sagenstoff erhielt für ihn auch die Gestalt dieses antiken Sängers eine neue Dimension. Als Vorspiel für die Opernaufführung sollte eine sinfonische Dichtung die Bedeutung dieser Urgestalt lebendig werden lassen, die der Natur Leben einhauchte, den Menschen half und sogar ins Totenreich eindringen konnte. Aber nicht die konkrete Geschichte von Orpheus und Eurydike war Gegenstand, sondern die Urgestalt des darin verborgenen Lebensprinzips.
Simone Young, die gerade in der Semperoper erfolgreich Paul Hindemiths »Mathis der Maler« dirigiert hatte, übernahm dies Liszt-Konzert in der Philharmonie, offenbarte das aus einem Ton und aufrauschenden Harfenklängen eindrucksvoll entstehende Bild des Ursängers, der auch vor den grollenden Bässen der Furien nicht zurückschreckte.
Diesem Werk der Wiederbelebung der antiken Gestalt folgte – damals eine Entdeckung – Franz Schuberts Klavier-Fantasie C-Dur, die »Wanderer-Fantasie« in der Bearbeitung für Klavier und Orchester durch Liszt. Schubert selbst hatte sein Lied Der Wanderer als Sinnbild seiner selbst nun hier in einer viersätzigen Klavier-Fantasie von Beethovenschen Dimensionen ausgearbeitet. Liszt nahm das damals selten gespielte Werk auf, wollte es bekannt machen und den Gehalt des Stückes durch die orchestral erweiterte Fassung vertiefen, das Bild des Wanderers, der vom Gebirge herabsteigt, der „Fremdling überall“, „die Blüte welk, das Leben alt“, dem Tode zugewandt und doch das Leben liebend. Gerade dieser Versuch eines Aufbruchs macht Schuberts Werk so interessant, und Liszt vermochte diese Haltung aufzugreifen.
Der frankokanadische Pianist Louis Lortie stellte diese Fassung nicht nur virtuos packend vor, sondern auch in einer Gestaltung, die den Steinway-Flügel meidet und auf jenes Instrument zurückgreift, das Liszt damals besonders geschätzt hat – den Bösendorfer, den Lortie mitbrachte. Dadurch erhielt die Aufführung nicht nur in der treffenden Spielfertigkeit, sondern auch im Klang eine besondere Note, eine romantischere. Der begeisterte Beifall ließ denn auch nicht auf sich warten und wurde durch eine Solozugabe (ebenfalls Liszt) belohnt.
Das Finale des Abends wurde getragen von Liszts »Sinfonie zu Dantes Divina Comedia« für Frauenchor und Orchester von 1855/56, übrigens 1857 in Dresden uraufgeführt. So wie der Weimarer Komponist bei Orpheus auf die Antike zurückgriff, so nahm er hier ein Stück große Weltliteratur auf, jenes Bild vom Totenreich, wie es Dante nachzeichnete als Gang über das „Inferno“ zum „Purgatorio“ und das schließlich im „Paradiso“ enden, also über die Läuterung zum Paradies führen sollte. Freund Richard Wagner, nur zwei Jahre jünger, riet ihm ab, das Paradies gestalten zu wollen und empfahl ein religiöses Ende mit dem Magnificat, einer Lobpreisung Gottes. Die Frauen des Philharmonischen Chores treten am Ende auf dem 1.Rang hervor und gestalteten diesen Gesang, der sich wie am Anfang des Konzerts Orpheus aus der Tiefe erhebt, den Gesang von der Höhe herab sinken lässt, nachdem das Orchester in einer breit gestalteten Orchesterfantasie das Inferno mit Gewalt erfasst hatte, jene Welt, an dessen Anfang es heißt: „Lasst jede Hoffnung fahren“ oder den Wandlungen der romantischen Klänge des bewegenden Purgatorio, die sich nun aufheben im himmlischen Gesang der Gregorianik, des Schritts zum Paradiso. Der Eindruck dieser Aufführung, die begeistert gefeiert wurde, ist nachhaltig. Wir sollten dem Werk Lizsts wieder mehr Beachtung schenken!
Friedbert Streller