Die neue Saison der Philharmonie begann mit einem ungewöhnlichen Konzert. Werke zweier Komponisten standen im Mittelpunkt, ausgewählt aus der Anfangsphase ihres Schaffens. Bei Wolfgang Amadeus Mozart waren es Szenen aus den Mailänder Opern »Mitridate« und »Ascania in Alba« von 1770. Der gerade 14jährige Komponist suchte einen eigenen Weg, sich die Tradition der italienischen Opera seria anzueignen. Die Beispiele zeigten, wie weit er bereits neue Sichten zu gewinnen suchte. Durch die Interpretationen des Countertenors Bejun Mehta erhielten die Arien sinnfällige Koloraturen, die Worte wie „Qualen“, „Klagen“ oder „Seufzer“ akzentuierten. Der Solist vermochte in lebendiger Gestaltung die Arien so vorzustellen, das man fasziniert lauschte. Dem begeisterten Publikum dankte er mit der Zugabe einer Arie des Londoner Händel, die nicht nur die Einflüsse auf den jungen Komponisten hörbar machte, sondern auch die Biegsamkeit und Zartheit der Stimme des „Artist in Recidence“ der Philharmonie offenbarte. Die Händel-Arie gestaltete Mehta stimmlich und auch dirigentisch beeindruckend, während die anderen Arien und die Ouvertüre zu »Mitridate« vom Chef der Philharmonie einfühlsam begleitet wurden.
Was hier weitgehend in zurückhaltender Zartheit vorgestellt wurde, das erhielt schärfere Konturen bei Schostakowitschs 4.Sinfonie in c-Moll. In plastischen Klangbildern halb herb zuschlagend mit einem Orchester, das eigentlich so besetzt ist wie zwei Orchester, halb lyrisch versonnen sich in flexiblen Klangformen ausweitend. Michael Sanderling, der schon einige der 15 Schostakowitsch-Sinfonien vorstellte, nahm sich hier mit besonderer Intensität und Einfühlungskraft dieses einst umstrittenen Werkes an. Als bei der Generalprobe in der Leningrader Philharmonie 1936 hörbar wurde, welch klangstarkes, ungewöhnliches Stück hier vorlag, das fürs Publikum und die Zensoren der sowjetischen Kultur-Institutionen schockierend sein würde und auf heftige Ablehnung stoßen könnte, zog der Komponist das Werk zurück. Die Uraufführung fand erst 1961 in Moskau statt, nachdem Schostakowitsch bereits eine Reihe begeistert aufgenommener Sinfonien geschrieben hatte, die in einer gestrafften Form seine eingängige sinfonische Gestaltungsweise nachgewiesen hatten.
Die „Vierte“ war dennoch ein wichtiges Werk für den Komponisten. In der 1.Sinfonie hatte der junge Komponist deutlich gemacht, in welchen Traditionslinien er stand – von Beethoven bis Tschaikowski/Glasunow. Danach suchte er neue Wege. Die 2.Sinfonie, zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution aufgeführt, experimentierte mit Klanggestalten, die Dritte versuchte Formen der Film-Musik zu nutzen. Erst die „Vierte“ ist jenes Werk, in dem er zu sich selbst fand. Der Fantasie ist Freiraum gegeben. Die Themen sind breit ausgestaltet. Die instrumentellen Raffinessen sind faszinierend ausgespielt, zuweilen auf eine fast brutale Weise genutzt. Hier hat der Komponist sich selbst gefunden! Diese Sprache prägt nun in gefassterer Form auch die folgenden Sinfonien. Die umwerfende Expressivität, die Fülle breiter melodisch-thematischer Ausgestaltung sind begeisternd in diesem fast achtzigminütigen Werk, das in der Interpretation von Michael Sanderling und der Fülle der mitgestaltenden Philharmoniker am Ende enthusiastisch gefeiert wurde.