Proteste in Berlin, beim Staatsballett. Sasha Waltz soll die Leitung übernehmen, gemeinsam mit Johannes Öhman, ursprünglich ab 2019. Öhmann kommt aber schon im nächsten Jahr, denn Nacho Duato, seit 2014 Leiter des Berliner Staatsballetts, hat darum gebeten, ihn schon vorzeitig zu entbinden. Duatos Zeit war bislang nicht von Erfolgen gekrönt. Aber wie es mit Frau Waltz wird, die ja nun nicht gerade auf große Erfahrungen in Sachen Ballett verweisen kann und mit Herrn Öhmann, derzeit beim Royal Swedish Ballet in leitender Funktion, der auf diesem Gebiet bislang auch nicht viel vorzuweisen hat, steht in den Sternen. Alles offen in Berlin.
Auch beim Stuttgarter Ballett steht ein Wechsel der Intendanz nach 20 erfolgreichen Jahren von Reid Anderson an. Tamas Detrich, Amerikaner ungarischer Herkunft, war nach seiner Ausbildung an der Stuttgarter John Cranko Schule 25 Jahre lang Tänzer, Solist und erster Solist beim Stuttgarter Ballett. 2015 wurde Tamas Detrich vom Verwaltungsrat der Staatstheater Stuttgart einstimmig zum Nachfolger Reid Andersons gewählt; er wird die Position des Ballettintendanten ab der Spielzeit 2018/19 bekleiden. Proteste hat es bisher nicht gegeben; Detrich hat aber auch noch nicht viel durchblicken lassen. Was er vorhat, was er ändern will, oder eben auch nicht. Dass auch in Stuttgart so etwas wie der berühmte „Ruck“ nötig wäre, dürfte ihm klar sein. Na ja, ein bisschen Ärger hat er doch gemacht, als er kürzlich – warum eigentlich nicht – mit Marco Goecke, einem der beiden Hauschoreografen, schon mal ein Gespräch führte, in dem es nach seiner Aussage, „lediglich um mögliche Pläne“ ging, von abgeschlossenen Entscheidungen könne nicht die Rede sein, auch habe er keine „Nichtverlängerung“ für Goecke, derzeit gut im Geschäft und international gefragt, ins Gespräch gebracht. Marco Goecke allerdings „fühlt“ sich gekündigt.
Seit nunmehr 44 Jahren ist John Neumeier in leitender Funktion beim Ballett in Hamburg, zunächst seit 1973 als Ballettdirektor und Chefchoreograf, seit 1996 auch als Ballettintendant. Bis 2019 läuft sein Vertrag. Den ehemaligen Hamburger Solotänzer Lloyd Riggins hat Neumeier schon zu seinem Stellvertreter ernannt. 2019 soll dann, so vermeldete es das Hamburger Abendblatt schon im Dezember 2013, der 44jährige Riggins den dann 80jährigen John Neumeier beerben.
Und in Dresden? Da ist noch Ruhe. Der Vertrag für Aaron S. Watkin läuft ja noch bis 2020, und wenn er sich mit dem neuen Intendanten – sofern dieser auch wirklich sein Amt antritt – dann auch noch versteht, dürfte es hier auch ganz in Ruhe weitergehen.
Das Publikum riss es spontan von den Sitzen
Unruhe gabs im letzten Jahr in München. So nach der Devise, Hilfe die Russen kommen, gab es einen regelrechten Aufstand, als Igor Zelensky zum Direktor des Bayerischen Staatsballetts berufen wurde und demzufolge auch Veränderungen der Positionen in der Kompanie ankündigte. Als er dann noch als erste Premiere den sowjetischen Klassiker »Spartacus« ankündigte, witterten die Münchner Kulturstalinismus.
Das sah nach der »Spartacus«-Premiere im Dezember letzten Jahres schon ganz anders aus. Die Kritiker staunten, in welch kurzer Zeit es gelungen war, das Bayerische Staatsballett auf jene unbedingt nötige Höhe tänzerischer Ansprüche zu heben, die unerlässlich sind, um hier zu überzeugen.
Zur Eröffnung der ersten Ballettwoche in der Verantwortung von Igor Zelensky ging der Blick nach Westen, nach London, zum Royal Ballet. Dort nimmt seit der Uraufführung 2011 das Ballett »Alice im Wunderland« von Christopher Wheeldon, mit der Musik von Joby Talbot und nach der Erzählung von Lewis Carroll, eine Spitzenposition im Repertoire des berühmten Opernhauses Covent Garden ein.
Jetzt, nach der Deutschen Erstaufführung, gab es wieder einen Aufstand in München, denn nach der Premiere beim Staatsballett riss es das Publikum spontan von den Sitzen. Jubel und lautstarke Begeisterung für »Alice im Wunderland«! Und in der Tat, wann verließ man ein Theater in so angenehmer, fröhlicher, beschwingter und dennoch auch leicht nachdenklicher Stimmung?
Natürlich beginnt eine große Show, Hollywood, der Broadway und das Londoner West-End lassen grüßen, wenn diese Reise für die immer stärker aufbegehrende, jugendliche Alice aus dem spießigen Mief einer Oxforder Teegesellschaft des Jahres 1862 eben in die Höhen und Tiefen auf dem Weg zum Erwachen der ersten zärtlichen Liebesregungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden führt.
Bob Crowleys Ausstattung bietet eine optische Überraschung nach der anderen. Dank der raffinierten Projektionen von John Driscoll und Gemma Carrington ist es möglich, dass Alice durch eine phantastische Spirale aus Kreisen, Buchstaben und Gegenständen fährt, dass sie bei der Ankunft vor verschlossenen Türen mal größer und mal kleiner werden kann um dann doch Einlass zu finden in jene Wunderwelt, die sie erst einmal in Tränen ausbrechen lässt. Aber schon schwimmt sie mit allen Wunderlandfiguren durch einen Ozean aus Tränen und Träumen. An ihrer Seite das weiße Kaninchen, bald auch der von der zickigen Mutter vertriebene, von ihr aber angehimmelte Gärtnerbursche Jack als Herzbube. Und dann sind sie alle da, die wild gewordene Köchin mit dem großen Hackbeil, der Zauberer und der verrückte Hutmacher, die riesige Schmusekatze oder die Mitglieder des Kinderballetts als putzig tollende Igelchen.
Und immer ist da die Mutter, diese Überfigur. Sie hetzt als rote Herzkönigin durch das Wunderland, macht Jagd auf den Herzbuben und stellt in einer irrwitzigen Szene ihre Tanzkünste vor. Grandios legt Séverine Ferrolier diese herrliche Persiflage auf das berühmte Rosen-Adagio aus »Dornröschen« hin. Da bleibt kein Auge trocken.
Überhaupt, es wird grandios getanzt. Christopher Wheeldons Anforderungen sind hoch. Beste Traditionen der englischen Neoklassik nimmt er auf, Meistern wie Sir Frederick Ashton oder Sir Kenneth MacMillan zollt er kreative Verehrung. Der Humor kommt nicht zu kurz, feinsinnig, man kann auch gerne mal an David Bintleys »Hobson’s Choice« denken, denn gesteppt wird auch. Hinreißend macht das Jonah Cook als verrückter Hutmacher.
Als Alice, fast durchgehend auf der Bühne und in Aktion, leicht und exzellent, wie selbstverständlich in den anspruchsvollen Spitzenvariationen, die bejubelte Tänzerin Maria Shirinkina. Als die Reise zu Ende ist, als Alice es geschafft hat, den Herzbuben vor der Verfolgung ihrer Mutter zu retten, wenn sie mit ihm in der Gegenwart angekommen ist, dann hat der Tänzer Vladimir Shkyarov, jetzt als Charmebube in Jeans und T-Shirt, die Herzen im Sturm seines tänzerischen Könnens erobert.
Ob bei der Vielzahl kleinerer und größerer Rollen, in den anspruchsvollen Szenen für das Corps de Ballet, in der Mitwirkung der Statisterie oder beim Bestaunen einer entfesselten Bühnentechnik: Christopher Wheeldons »Alice im Wunderland« präsentiert sich als großartiger Abend des Bayerischen Staatsballetts unter seinem neuen Chef Igor Zelensky. Das alles zu einer wahrhaft rhythmisch verführerischen Musik, mal eher dem Filmsound, dann besten Showelementen des Musicals verpflichtet, aber immer wieder auch ein wenig nachdenklich, mit Verve gespielt vom Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Myron Romanul. Nach der Devise, dass Kinder Märchen brauchen, Erwachsene erst recht, verzaubert diese beschwingte Wunderlandstimmung Kraft des Tanzes die Kleinen und die Großen.
Und wenn man sieht, was dieser Zelensky so plant, dann wird ganz sicher bald wieder eine Reise nach München anstehen. Für die Eröffnung der Ballett Woche des nächsten Jahres konnte er mit dem Engländer Wayne McGregor, geboren 1970, einen der interessantesten Choreografen des modernen Balletts – und die Betonung liegt hier auf Ballett – gewinnen. Seit 2006 ist er Resident Choreografer beim Royal Ballet in London, übrigens der erste Choreograf aus der freien Szene, der eine solche Position an diesem renommierten Haus innehat, und hier bislang 15 Kreationen zur Uraufführung brachte.
In München kommen »Borderlands« mit der Musik von Joel Cadburry und Paul Stone und »Kairos« mit der Musik von Max Richter zur Aufführung, sowie eine Uraufführung als Auftragsarbeit für das Bayerische Staatsballett. Wenn es dann noch gelingt, wie Igor Zelensky jüngst ankündigte, in den nächsten Jahren das Ballett um zehn Tänzerstellen zu erweitern, dann könnte München zur Ballettmetropole werden.