Es war ein lang angekündigtes musikalisches Großereignis für die Stadt Dresden, und die Organisatoren der Staatskapelle hatten im Vorfeld einigen Rummel darum betrieben: Herbert Blomstedt, lebende Legende, kam kurz vor seinem 90. Geburtstag zu einem Konzert nach Dresden. Von 1975 bis 1985 war Blomstedt Chefdirigent der Staatskapelle, und mit seinen Konzerten und den bis heute denkwürdigen Aufnahmen, etwa der Beethoven-, Schubert- und Bruckner-Sinfonien, hat er einen gewichtigen Anteil am internationalen Ruhm dieses Orchesters. Für das 12. Symphoniekonzert am 1., 2. und 3. Juli, das von einer Live-Übertragung auf den Theaterplatz und einem kleinen Festakt begleitet wurde, hatte er wiederum Beethoven und Bruckner aufs Programm gesetzt.
Solist in Beethovens Erstem Klavierkonzert C-Dur op. 15 war Sir András Schiff, der schon vor einigen Monaten mit seiner Interpretation des Schumann-Klavierkonzertes in Dresden dem Publikum die Ohren durchgepustet hatte. Schiff hatte gezeigt, um wie viel dringlicher diese Musik wird, wenn man sie von aller Scheinraserei befreit und sie als ein musikalisches Gespräch gestaltet. Und jetzt dieser Beethoven! Schiff zelebrierte das Konzert als wohlartikulierte und von Überraschungen und lebendigem Witz nur so sprühende Musik. Vielfach meint man, es mit Mozart zu tun zu haben, wenn nicht ein herber Gestus sich immer wieder dazwischendrängen würde. Selten gehörte Nebenstimmen kommen zum Vorschein, wogegen das allzu Bekannte dezent zurücktritt. Immer wieder gibt es zu staunen, und Schiff versteht es meisterhaft, diesen entstaubten Beethoven dem Publikum selbstverständlich zu machen. Zuweilen scheint es gar, als würde er mit der Partitur etwas freier umgehen, tatsächlich aber kann man sich kaum eine „werktreuere“ Aufführung vorstellen als gerade diese, die Beethovens Musik als eine immer neue Herausforderung und ein zeitgenössisches Gesprächsangebot ernstnimmt. Die Staatskapelle unter Blomstedt folgte dieser Vorgabe – je länger desto deutlicher. Machten sich im ersten Satz zuweilen kontrastscharfe, dröhnende Ausbrüche geltend, die im Vergleich zum Klavier etwas dick aufgetragen wirkten, fand das Orchester im langsamen zweiten Satz in seiner Haltung immer besser zum Klavier. Im abschließenden Rondo konnte man einem spannenden und dichten, deutlich von Schiff akzentuierten musikalischen Dialog folgen. Einen solch „sprechenden“ Beethoven wünscht man sich, zumal in einer Stadt wie Dresden, öfter! Den enthusiastischen Beifall nahm Schiff gentlemanlike entgegen und bedankte sich mit dem ersten Satz aus Bachs „Italienischem Konzert“, das hier selten spritzig und geistreich zu hören war.
Im zweiten Teil zeigte Herbert Blomstedt dann mit Bruckners Vierter, wie viel gerade bei Bruckner mit guter Akzentuierung und deutlicher Artikulation zu erreichen ist! Schon der Beginn, das Horn-Motiv auf dem warm-schimmernden leisen Streichertremolo, macht deutlich, was hier zu erwarten ist: die Figuren sind klar konturiert und charaktervoll gezeichnet, alles wirkt plausibel und selbstverständlich. Bei aller Deutlichkeit erhält Blomstedt den großen Bogen dieser Symphonie, alle Details sind stets auch aufs Ganze bezogen. Die Musik bekommt so einen ungemein langen Atem, man höre nur die wunderbar abgefederten Pizzicati in den Variationen des langsamen Satzes. Dabei wird vom ersten Takt an ein inneres Feuer des Orchesters spürbar, das diese über einstündige Symphonie trägt. Noch die ausgedehntesten Passagen, etwa im Andante, werden durchpulst und zu kurzweiligen Episoden einer großen Erzählung, der man gebannt folgt. Das ist das Gegenteil von falscher Prätention, die in der Dresdner Bruckner-Pflege seit einiger Zeit zu gewärtigen sind. Dirigent und Kapelle sind mit dieser Symphonie in ihrem Element, und die Vitalität und Musizierfreude des fast 90-jährigen Herbert Blomstedt wirkt sowohl auf das Orchester als auch auf das Publikum elektrisierend. Eine musikalische Offenbarung an diesem Abend ist dann das langsame, selten so intensiv gehörte, dreiminütige Schlusscrescendo des ganzen Orchesters, an dessen Ende – an dem Punkt, an dem man glaubt, jetzt sei der Höhepunkt erreicht – noch eine Stufe draufgesetzt wird, und aus dem sorgfältig bereiteten Boden, mit Streichertremoli und drängend-irisierenden Figuren, das Horn-Motiv des Anfangs wie die Blüte aus der Knospe hervorbricht. Ende und Beginn werden wieder zusammengebunden, dazwischen entfaltet sich eine große Erzählung. Nachzuerleben ist das noch bis 11. August im Internet: und sei allen Brucknerfreunden hiermit ans Herz gelegt.
Aron Koban